Padington by Agatha Christie

Padington

AGATHA CHRISTIE

16 Uhr 50 ab Paddington

Jubiläums-Edition

Scherz

Bern – München – Wien

4

Einmalige Jubiläums-Ausgabe 1991

Überarbeitete Fassung der einzig

berechtigten Übertagung aus dem Englischen

von K. Hellwig

Titel des Originals: «4.50 from Paddington»

Copyright ©1957 by Agatha Christie Limited

Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag

Bern und München

5

1

Mrs. McGillicuddy keuchte hinter dem Gepäckträger her,

der ihren Koffer trug. Sie war klein und etwas beleibt, der

Gepäckträger aber groß, und er machte entsprechend große

Schritte. Außerdem war Mrs. McGillicuddy mit zahlreichen

Paketen beladen – dem Ergebnis der Weihnachtseinkäufe des

Tages. Es war daher ein ungleicher Wettkampf, und als der

Gepäckträger am Anfang des Bahnsteigs um die Ecke bog,

hastete Mrs. McGillicuddy noch die Gerade hinunter.

Bahnsteig 1 war in diesem Augenblick nicht übermäßig

belebt, da gerade ein Zug abgefahren war, aber in dem Nie –

mandsland vor den Bahnsteigen wogte eine quirlende Menge

gleichzeitig in verschiedenen Richtungen hin und her.

Mrs. McGillicuddy gelangte schließlich doch bis zu

Bahnsteig 3.

«Zug auf Bahnsteig 3», teilte eine Stimme mit, «Abfahrt

16 Uhr 5o nach Brackhampton, Milchester, Waverton,

Carvil Junction, Roxeter und Chadmouth. Abteile für

Reisende nach Brackhampton und Milchester in den letzten

Wagen des Zuges. Reisende nach Vanequay in Roxeter

umsteigen.» Die Stimme brach mit einem Knacken ab.

Mrs. McGillicuddy fand ihre Fahrkarte in der Handtasche

und zeigte sie vor. Der Beamte murmelte: < Rechts – letzterWagen.»Mrs. McGillicuddy trabte den Bahnsteig hinunter undfand ihren gelangweilt in die Luft starrenden Gepäckträgervor der Tür eines Abteils dritter Klasse.«Ich fahre erster Klasse», erklärte Mrs. McGillicuddy.«Das hätten Sie auch gleich sagen können», brummte der6Gepäckträger. Er musterte geringschätzig ihren schlichtenTweedmantel, holte den Koffer wieder aus dem Wagen herausund ging damit zum anschließenden Waggon, wo Mrs.McGillicuddy in einem leeren Abteil erster Klasse Platznahm. Der Zug 16 Uhr 5o war bei den Reisenden ersterKlasse nicht sonderlich beliebt. Sie zogen es zumeist vor,den schnelleren Morgenexpreß zu benutzen. Mrs.McGillicuddy reichte dem Gepäckträger ein Trinkgeld , daser mit sichtlicher Enttäuschung entgegennahm, da es seinerMeinung nach eher zu einer Reisenden dritter als zu einererster Klasse gepaßt hätte. Mrs. McGillicuddy ließ sich indie Plüschpolster sinken, seufzte erleichtert auf und blättertein einer Zeitschrift. Fünf Minuten später ertönte einlanggezogener Pfiff, und der Zug setzte sich in Bewegung.Die Zeitschrift glitt ihr aus der Hand, ihr Kopf neigte sichzur Seite, drei Minuten später schlief sie. Nachfünfunddreißig Minuten wachte sie erfrischt wieder auf. Sierückte näher ans Fenster und blickte hinaus.Ein Zug raste in entgegengesetzter Richtung kreischendvorüber und ließ die Scheibe klirren, so daß sie erschrockenzusammenfuhr. Jetzt ratterte der Zug über Weichen und fuhrdurch einen Bahnhof. Dann begann er plötzlich die Fahrt zuverlangsamen, vermutlich, weil ein Signal ihn dazu zwang.Ein anderer Zug, der wie der erste nach London fuhr, glitt,wenn auch weniger schnell, am Fenster vorüber. Ihr eigenerZug beschleunigte seine Fahrt wieder. In diesem Augenblickschwenkte ein ebenfalls aus London kommender Zug aufdas Gleis neben dem ihren ein, was im ersten Augenblickfast alarmierend wirkte. Eine Weile fuhren die beiden Zügenebeneinanderher: Bald war der eine etwas schneller, baldder andere. Mrs. McGillicuddy blickte von ihrem Platz ausdurch die Fenster der parallel laufenden Wagen. In denmeisten Abteilen waren die Rouleaus heruntergelassen,gelegentlich aber konnte man die Fahrgäste sehen. Der7andere Zug war nicht sehr voll. Viele Abteile waren sogarganz leer.In dem Augenblick, da man den Eindruck hatte, daßbeide Züge stehengeblieben waren, schnellte eines derRouleaus in die Höhe. Mrs. McGillicuddy blickte in daserhellte Abteil erster Klasse, das kaum einen Meter entferntwar.Da riß sie entsetzt die Augen auf und fuhr halb in dieHöhe. Am Fenster des andern Abteils, ihr den Rückenzukehrend, stand ein Mann. Seine Hände schlossen sich umdie Kehle einer Frau ihm gegenüber, die er langsam,erbarmungslos erdrosselte. Ihre Augen traten aus denHöhlen, ihr Gesicht wurde blutrot. Während Mrs.McGillicuddy noch wie gelähmt beobachtete, was in demandern Zug vorging, kam das Ende: Der Körper der Frauwurde schlaff und sank unter den Händen des Manneszusammen.Da verlangsamte Mrs. McGillicuddys Zug wieder seinTempo, während der andere an Schnelligkeit gewann. Im

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