Padington by Agatha Christie

Die Leichenschau war reine Formsache. Es fand sich nie –

mand, der die Tote hätte identifizieren können. Lucy mußte

berichten, wie sie die Leiche gefunden hatte, und das

medizinische Gutachten lautete: Tod durch Erdrosseln.

Draufhin wurde das Verfahren vertagt.

Es war ein kalter, windiger Tag. Die Familie Crackenthorpe

verließ die Halle, in der die Leichenschau stattgefunden

hatte. Es waren ihrer im ganzen fünf: Emma, Cedric,

Harold, Alfred und Bryan Eastley, der Gatte der verstorbenen

Tochter Edith. Dann war da noch Mr. Wienborne, der

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Seniorteilhaber der Anwaltsfirma, die die Rechtsangelegenheiten

der Familie Crackenthorpe erledigte. Er hatte sich die

Mühe gemacht, von London herzukommen, bloß um der

Leichenschau beizuwohnen. Die kleine Gesellschaft stand

einen Augenblick lang fröstelnd auf dem Bürgersteig. Es

hatte sich eine nicht unbeträchtliche Menschenmenge angesammelt,

denn über die pikanten Einzelheiten der Geschichte

von der «Leiche im Sarkophag» war in der Presse

ausführlich berichtet worden.

Ein Murmeln ging durch die Reihen: «Da sind sie . . .»

Emma sagte ungeduldig: «Wir wollen machen, daß wir

von hier fortkommen.»

Der große Mietwagen fuhr vor. Emma stieg ein und

winkte Lucy. Mr. Wienborne, Cedric und Harold folgten.

Bryan Eastley sagte: «Ich nehme Alfred in meinem Wagen

mit.» Der Chauffeur schloß die Wagentür, und der Daimler

wollte gerade anfahren.

«Halt!» rief Emma. «Da sind ja die Jungen!»

Die beiden waren ungeachtet ihres empörten Protestes in

Rutherford Hall zurückgelassen worden. Und nun tauchten

sie plötzlich hier auf und grinsten über das ganze Gesicht.

«Wir sind auf unseren Rädern hergefahren», erklärte

Stoddart-West. «Der Polizist war sehr freundlich. Er ließ uns

in die Halle rein, wir mußten nur hinten bleiben. Ich hoffe,

Sie sind nicht böse, Miss Crackenthorpe», fügte er höflich

hinzu.

«Sie ist nicht böse», antwortete Cedric für seine

Schwester. «Man ist nur einmal jung. Wohl eure erste

Leichenschau?»

«War ziemlich enttäuschend», erklärte Alexander. «Ging

alles zu schnell vorüber.»

«Wir können hier nicht rumstehen und schwatzen», sagte

Harold ärgerlich. «Es haben sich eine Menge Leute

angesammelt. Und dann die Fotografen!»

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Er sagte ein paar Worte zu dem Chauffeur, und der

Wagen setzte sich in Bewegung. Die Jungen winkten.

«Ging alles zu schnell vorüber!» sagte Cedric. «Diese ahnungslosen

Jungen! Jetzt fängt alles erst an.»

«Es ist alles sehr unangenehm. Äußerst unangenehm»,

bemerkte Harold. «Ich vermute -»

Er blickte Mr. Wimborne an, der seine dünnen Lippen

zusammenpreßte und angewidert den Kopf schüttelte.

«Ich hoffe», sagte er gemessen, «die ganze Geschichte

wird bald eine befriedigende Aufklärung finden. Allerdings

muß auch ich gestehen, daß es eine höchst unglückliche

Sache ist.»

Er sah, während er sprach, Lucy an. In seinem Blick war

deutlich Mißbilligung zu lesen.

«Wenn diese junge Frau nicht herumgestöbert hätte, wo

sie nichts zu suchen hatte, wäre das alles nicht geschehen»,

schien er sagen zu wollen.

Harold Crackenthorpe verlieh diesem Gefühl, oder doch

einem sehr ähnlichen, Ausdruck:

«Übrigens – Miss – hm – Miss Eyelesbarrow, was veranlaßte

Sie eigentlich, in den Sarkophag zu blicken?»

Lucy hatte sich im stillen schon gewundert, daß noch keiner

von der Familie daraufgekommen war, sie danach zu

fragen. Sie hatte gewußt, daß es die erste Frage der Polizei

sein würde.

Cedric, Emma, Harold und Mr. Wienborne, alle richteten

die Augen auf sie. Natürlich hatte sie seit langem ihre Antwort

vorbereitet.

«Wirklich», sagte sie etwas zögernd, «ich weiß es

eigentlich selber nicht… Ich hatte das Gefühl, daß das

Museum, oder wie ich es nennen soll, einmal gründlich

aufgeräumt und gesäubert werden müsse. Und da spürte ich

plötzlich» – sie machte eine kurze Pause -, «da spürte ich

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einen sehr eigenartigen und höchst unangenehmen

Geruch…»

Sie hatte richtig spekuliert. Alle zuckten zusammen, als

sie das hörten.

Mr. Wienborne murmelte: «Ja, ja, natürlich… drei Wochen,

sagte der Polizeiarzt . . . Ich glaube, wir tun gut daran,

nicht über die Einzelheiten nachzudenken.» Er blickte

Emma, die sehr blaß geworden war, aufmunternd an. «Vergessen

Sie nicht», sagte er, «daß diese unglückselige junge

Frau mit keinem von uns etwas zu tun hatte.»

«Wie können Sie dessen so sicher sein?» fragte Cedric.

Lucy Eyelesbarrow blickte ihn interessiert an. Die Unterschiede

zwischen den drei Brüdern waren auffallend. Cedric

hatte ein vom Wetter gegerbtes, gefurchtes Gesicht und ungepflegtes

dunkles Haar. Er war unrasiert vom Flughafen

gekommen, und wenn er sich auch zur Leichenschau rasiert

hatte, so trug er doch noch immer die Kleider, in denen er

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