ob es ein Durchgangswagen war?»
«Nein, es war keiner.»
«Das scheint auf einen Zug hinzudeuten, der nicht weit
fuhr. Er hat wahrscheinlich in Brackhampton gehalten. Nehmen
wir also an, der Mörder verläßt den Zug in Brackhampton.
Vielleicht hat er die Tote in einer Ecke sitzen gelassen
und mit dem Pelzkragen das Gesicht verdeckt, um die
Entdeckung so lange wie möglich hinauszuzögern. Ja, ic h
bin fast sicher, daß er das getan hat. Aber natürlich wird ein
solches Verbrechen doch in verhältnismäßig kurzer Zeit
entdeckt, und daher ist es wahrscheinlich, daß schon in den
Morgenblättern etwas darüber zu lesen sein wird. Nun, wir
werden ja sehen.»
Aber es stand nichts davon in den Morgenzeitungen.
Nachdem Miss Marple und Mrs. McGilücuddy sich
davon überzeugt hatten, beendeten sie schweigend ihr
Frühstück. Beide hingen ihren Gedanken nach.
«Ich denke», begann Miss Marple, «wir sollten zur
Polizei gehen und mit Sergeant Cornish sprechen. Er ist
intelligent und geduldig, ich kenne ihn sehr gut, und er kennt
mich. Er wird bestimmt zuhören und was wir ihm sagen an
die richtige Stelle weiterleiten.»
Frank Cornish, ein ernster Mann zwischen dreißig und
vierzig empfing Miss Marple mit Herzlichkeit, ja Ehrerbie –
tung.
«Was kann ich für Sie tun, Miss Marple?»
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Miss Marple antwortete: «Ich möchte Sie bitten, die Geschichte
anzuhören, die meine Freundin Mrs. McGillicuddy
zu erzählen hat.»
Und Sergeant Cornish lauschte aufmerksam. Als sie
geendet hatte, schwieg er eine kurze Weile. Dann bemerkte
er:
«Das ist eine ganz außerordentliche Geschichte.» Seine
Augen hatten im geheimen Mrs. McGillicuddy aufmerksam
beobachtet, während sie erzählt hatte.
Er hatte im ganzen einen günstigen Eindruck gewonnen.
Eine vernünftige Frau, die eine Geschichte klar erzählte.
Eine Frau, die, soweit er es beurteilen konnte, weder
hysterisch noch allzu phantasiebegabt war. Außerdem schien
Miss Marple an die Zuverlässigkeit der Erzählung ihrer
Freundin zu glauben, und er kannte Miss Marple recht gut.
Jeder in St. Mary Mead kannte Miss Marple. Sie wirkte zwar
etwas nachlässig und fahrig, war aber in Wirklichkeit so
scharfsinnig und gewissenhaft, wie man sich nur wünschen
konnte.
Er räusperte sich.
«Natürlich können Sie sich getäuscht haben – verstehen
Sie mich richtig: Ich sage nicht, daß Sie sich getäuscht
hätten, aber sie könnten sich getäuscht haben. Es wird
allerlei grober Unfug getrieben. Vielleicht war es gar nicht
ernst gemeint, vie lleicht gar nicht so gefährlich, wie es
aussah.»
«Ich weiß, was ich gesehen habe», erwiderte Mrs.
McGillicuddy ruhig.
«Sie haben Ihre Beobachtungen der Eisenbahnbehörde
gemeldet und sind jetzt gekommen, um mir darüber zu
berichten. Sie haben völlig richtig gehandelt, und Sie können
sich darauf verlassen, daß ich Nachforschungen anstellen
werde.»
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Cornish machte eine Pause. Miss Marple ruckte
befriedigt. Mrs. McGillicuddy war keineswegs zufrieden,
doch ließ sie nichts davon verlauten. Sergeant Cornish
wandte sich an Miss Marple, nicht so sehr, weil er wissen
wollte, wie sie über die Sache dachte, sondern weil es ihn
interessierte zu hören, was sie auf seine Frage antworten
würde.
«Nehmen wir an, die Tatsachen sind so, wie sie soeben
berichtet wurden. Was mag dann Ihrer Meinung nach aus
der Leiche geworden sein?»
«Es scheint nur zwei Möglichkeiten zu geben», erwiderte
Miss Marple, ohne zu zögern. «Am wahrscheinlichsten wäre
natürlich, daß sie im Zug blieb; aber das kann kaum sein, da
sie dann ja doch irgendwann in der Nacht von einem
anderen Reisenden oder einem Eisenbahnbeamten hätte
gefunden werden müssen.»
Frank Cornish nickte.
«Die einzige andere Möglichkeit ist, daß der Mörder die
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Tote unterwegs aus dem Zug geworfen hat. Dann aber
müßte sie immer noch irgendwo auf der Strecke liegen und
nicht entdeckt worden sein. Ebenfalls unwahrscheinlich.
Trotzdem sehe ich keine andere Möglichkeit: Entweder hat
der Mörder sie im Zug gelassen oder hinausbefördert.»
«Man hat schon davon gelesen, daß Leichen in Koffern
versteckt wurden», warf Mrs. McGillicuddy ein. «Aber wer
reist denn heutzutage noch mit großen Koffern? Jedermann
zieht Handkoffer vor, und in einem Handkoffer kann man
keinen Toten unterbringen.»
«Ja», sagte der Sergeant. «Ich stimme Ihnen beiden zu.
Die Leiche (wenn es eine Leiche gibt) hätte inzwischen
entdeckt worden sein müssen, oder sie wird sehr bald
entdeckt werden. Ich werde Sie über jede Entwicklung in der
Angelegenheit unterrichten, sobald ich etwas erfahre. Aber
ich denke, Sie werden darüber auch in den Zeitungen lesen.
Natürlich besteht die Möglichkeit, daß die Frau zwar