ich wirklich nicht sagen. Wer war sie? Was wissen Sie von
ihr?»
«Fast weniger als nichts», erwiderte sein französischer
Kollege. «Sie spielt keine große Rolle, und das Ballett
Maritski ist auch nicht sehr bedeutend. Es tritt in
Vorstadttheatern auf und geht auf Tournee, es besitzt keine
Stars, keine berühmten Tänzerinnen. Aber ich werde Sie mit
Madame Joliet bekannt machen.»
Madame Johet war eine geschäftstüchtige Französin mit
scharfen Augen, einem kleinen Bärtchen und reichlich viel
Fettgewebe.
«Was ist mit Anna Strawinska?»fragte Madame
vorsichtig.
«Ist sie Russin?» fragte Inspektor Craddock.
«Nein. Sie meinen wohl wegen ihres Namens? Diese
Mädchen nehmen alle irgendeinen Namen an. Die
Strawinska war nicht bedeutend, sie tanzte nicht gut und sah
auch nicht besonders gut aus. Elle dtait assez bien, c’est tout.
Sie tanzte im Corps de ballet gut genug, aber keine Solos.»
«War sie Französin?»
135
«Vielleicht. Sie hatte einen französischen Paß. Aber sie
erzählte mir einmal, sie habe einen englischen Gatten.»
«Sie erzählte Ihnen, sie habe einen englischen Gatten?
Einen lebenden, oder war er schon tot?»
Madame Joliet zuckte die Achseln.
«Entweder war er tot, oder er hatte sie verlassen. Wie
kann ich das wissen? Diese Mädchen – sie haben immer
Verdruß mit den Männern -»
«Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»
«Ich ging mit meiner Truppe sechs Wochen nach
London. Wir traten in Torquay, Bournemouth, Eastbourne
und schließlich in Hammersmith auf. Dann kehrten wir nach
Frankreich zurück, aber Anna kam nicht. Sie schickte eine
Nachricht, daß sie die Truppe verlasse, da sie bei der Familie
ihres Mannes leben werde oder etwas dergleichen. Ich
glaubte es nicht, sondern hielt es für wahrscheinlicher, daß
sie einen Mann kennengelernt hatte. Sie verstehen wohl?»
Inspektor Craddock ruckte.
«Und es war kein Verlustfür mich. Ich konnte ebenso
gute, ja bessere Mädchen bekommen.»
«Wann war das?»
«Unsere Rückkehr nach Frankreich? Das war – ja – am
Sonntag vor Weihnachten. Und Anna hat uns zwei oder drei
Tage vorher verlassen. Ich erinnere mich nicht mehr genau .
. . Aber am Wochenende in Hammersmith mußten wir ohne
sie auftreten.»
Madame Joliet machte eine kurze Pause und fragte dann
plötzlich mit einem Anflug von Interesse:
«Warum suchen Sie sie? Ist sie zu Geld gekommen?»
«Im Gegenteil», erwiderte Inspektor Craddock höflich.
«Wir glauben, sie ist ermordet worden.»
Madame Joliet verlor das Interesse sofort wieder.
136
«Ca se peut! Das kommt vor. Nun, sie war eine gute
Katholikin. Sonntags ging sie in die Messe, und sicher hat
sie auch gebeichtet.»
«Hat sie Ihnen, Madame, jemals von einem Sohn
erzählt!»
«Von einem Sohn? Wollen Sie damit sagen, sie habe ein
Kind gehabt? Das halte ich für höchst unwahrscheinlich.
Alle diese Mädchen – aber auch alle – kennen eine gewisse
Adresse, wo sie in solchen Fällen hingehen können. Monsieur
Dessin weiß das ebensogut wie ich.»
«Vielleicht hat sie ein Kind gehabt, bevor sie zur Bühne
ging», meinte Craddock. «Zum Beispiel während des Krie –
ges.»
«Ah! Pendant la guerre. Das ist immer möglich. Aber ich
jedenfalls weiß nichts davon.»
«Welches von den andern Mädchen war am engsten mit
ihr befreundet?»
«Ich kann Ihnen zwei oder drei Namen nennen, aber richtig
intim war sie mit keiner.»
Es war nichts wirklich Wesentliches aus Madame Joliet
herauszuholen. Als ihr die Puderdose gezeigt wurde, sagte
sie, Anna habe eine solche besessen, aber die meisten andern
Mädchen hätten auch solche Dosen. Was den Pelzmantel
betreffe, so sei es nicht ausgeschlossen, daß Anna in London
einen gekauft habe.
«Ich kümmere mich nur um die Proben, um die
Bühnenbeleuchtung, um alle Fragen, die mein Geschäft
betreffen. Ich habe keine Zeit, darauf zu achten, was meine
Künstlerinnen tragen.»
Nach Madame Joliet verhörten Craddock und Dessin die
Mädchen, deren Namen ihnen die Ballettmeisterin genannt
hatte. Sie kannten Anna ganz gut, aber sie sagten alle, ihre
Kollegin habe nicht viel über sich selbst gesprochen, und
137
wenn sie es getan habe, fügte eines der Mädchen hinzu, dann
seien es meistens Lügen gewesen.
«Sie liebte es, anzugeben, erzählte Geschichten, daß sie
die Mätresse eines Großherzogs oder eines bedeutenden
englischen Finanzmanns gewesen sei, oder sie behauptete,
sie habe während des Krieges in der Widerstandsbewegung
gearbeitet. Einmal prahlte sie sogar, sie sei in Hollywood
Filmstar gewesen.»
Ein anderes Mädchen sagte:
«Ich glaube, sie führte in Wirklichkeit ein sehr bescheidenes
bürgerliches Leben. Sie war gern beim Ballett, weil sie