das für romantisch hielt, aber sie war keine gute Tänzerin.»
«Auch in London», sagte das erste Mädchen, «machte sie
Andeutungen über einen sehr reichen Mann, der sie zu einer
Vergnügungsreise um die Welt mitnehmen wolle, weil sie
ihn an seine Tochter erinnere, die bei einem Autounfall umgekommen
sei. Quelle blague!»
«Mir sagte sie, ein reicher Lord in Schottland habe sie
eingeladen», berichtete das zweite Mädchen.
Das alles sagte den Kriminalbeamten nicht viel. Das einzige,
was aus den Berichten der beiden Kolleginnen hervorging,
war, daß Anna Strawinska eine üppige Phantasie besaß.
Sicher war es unwahrscheinlich, daß sie auf dem Sonnendeck
eines Luxusdampfers eine Reise um die Welt
machte. Es war aber auch kein wirklicher Grund vorhanden
zu der Annahme, man habe ihre Leiche in einem Sarkophag
in Rutherford Hall gefunden. Die Identifizierung durch die
Mädchen und Madame Joliet war höchst unsicher und zögernd.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit Anna hatte die Tote auf
der Fotografie, das gaben sie alle zu. Da sie aber so
aufgequollen war, hätte sie genausogut jemand ganz anderer
sein können.
Als einzige Tatsache ergab sich, daß Anna Strawinska am
19. Dezember beschlossen hatte, nicht nach Frankreich
138
zurückzukehren, und daß am 2o. Dezember eine Frau, die
eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr hatte, mit dem Zug 16 Uhr
33 nach Brackhampton gefahren und erdrosselt worden war.
Wenn die Frau im Sarkophag nicht Anna Strawinska war,
wo war diese dann jetzt?
Darauf gab Madame Joliet eine einfache und
unvermeidliche Antwort:
«Bei einem Mann!»
Das war wahrscheinlich die richtige Antwort, dachte
Craddock. Aber eine andere Möglichkeit mußte in Betracht
gezogen werden. Anna hatte gelegentlich bemerkt, sie habe
einen englischen Gatten.
War dieser Gatte Edmund Crackenthorpe gewesen?
Das schien unwahrscheinlich nach der Schilderung, die
Augenzeugen von ihr gegeben hatten. Wahrscheinlicher war,
daß Anna einst Martine gut genug gekannt hatte, um die
notwendigen Einzelheiten zu wissen. Anna konnte also den
Brief an Emma Crackenthorpe geschrieben haben. In diesem
Fall war es durchaus verständlich, daß sie plötzlich vor
Nachforschungen Angstbekommen hatte. Vielleicht hatte sie
sogar aus Vorsicht ihre Verbindung zum Ballett Mantski
abgebrochen. Aber die Frage blieb offen: Wo war sie jetzt?
Und wieder schien Madame Joliets Antwort darauf die
einzig richtige: Bei einem Mann…
Bevor Craddock Paris verließ, sprach er mit Dessin über
die Frau, die Martine hieß. Dessin war ebenso wie sein
englischer Kollege der Meinung, es bestünde zwischen ihr
und der im Sarkophag gefundenen Frau kein
Zusammenhang. Immerhin, meinte er, müsse man der Sache
nachgehen.
Er versicherte Craddock, die Sürete würde alles tun, was
in ihrer Macht stünde, um zu klären, ob tatsächlich die
Vermählung des Leutnants Edmund Crackenthorpe vom q..
139
Southshire Regiment mit einer Französin namens Martine
(Familienname unbekannt) irgendwo aktenkundig geworden
war. Er machte Craddock in dessen darauf aufmerksam, daß
ein Erfolg der Nachforschungen sehr zweifelhaft sei. Das in
Frage kommende Gebiet sei fast zur selben Zeit von den
Deutschen besetzt gewesen und habe in der Folgezeit
schwere Schäden erlitten. Viele Gebäude und Aktenstücke
seien vernichtet worden.
Bei Craddocks Rückkehr berichtete Sergeant Wetherall
über das Ergebnis seiner Nachforschungen:
Er hatte ermittelt, daß sich im Hause 126 Elvers Crescent
eine Pension befand; übrigens eine Pension von gutem Ruf.
«Haben Sie sonst etwas ermitteln können?» fragte Craddock.
«Keiner erkannte in der Toten auf der Fotografie eine
Frau wieder, die Briefe abgeholt hatte. Aber das ist auch
kein Wunder, denn es ist jetzt einen Monat her, und die
Pension wird von sehr vielen Leuten als Briefadresse
benutzt.»
«Vielleicht wohnte sie in der Pension unter einem
anderen Namen.»
«Das ist schon möglich. Aber jedenfalls fand sich
niemand, der die Frau auf der Fotografie erkannt hätte. Wir
haben alle Hotels und Pensionen abgeklappert – nirgendwo
eine Martine Crackenthorpe unter den eingetragenen Gästen.
Nachdem wir Ihren Anruf aus Paris erhalten hatten, fragten
wir wegen Anna Strawinska nach. Sie hatte mit anderen
Mitglie dern der Truppe in einem billigen Hotel in der Nähe
von Brook Green gewohnt. Dort steigen viele Artisten und
Theaterleute ab. Sie verschwand am Donnerstag, dem i9.
Dezember, nach der Abendvorstellung. Weiter war nichts
herauszukriegen.»
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Inspektor Craddock rief bei der Firma Wimborne,
Henderson und Carstairs an und vereinbarte mit Mr.
Wimborne einen Termin.
Mr. Wimborne blickte seinen Besucher mit der höflichen
Zurückhaltung an, die für einen Familienanwalt charakteristisch
ist, sobald er es mit der Polizei zu tun hat.