Padington by Agatha Christie

«Ich würde mir ein Herz fassen und es ihnen erzählen»,

sagte er. «Tun Sie es nicht, dann werden Sie Ihre Unruhe

nicht los. Ich kenne Sie.»

Emma errötete leicht.

«Vielleicht bin ich töricht.»

«Tun Sie, was Sie für richtig halten, meine Liebe. Ich

halte mehr von Ihrer Urteilsfähigkeit als von der irgendeines

andern der ganzen Familie.»

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«He! Kommen Sie doch mal rein!»

Lucy wandte überrascht den Kopf.

Der alte Mr. Crackenthorpe blickte durch den Spalt einer

Tür und winkte ihr heftig.

«Wünschen Sie etwas, Mr. Crackenthorpe?»

«Reden Sie nicht soviel! Kommen Sie rein!»

Lucy gehorchte.

Der Alte packte sie am Arm, zog sie ins Zimmer und

schloß hinter ihr die Tür.

«Ich möchte Ihnen was zeigen», sagte er.

Lucy blickte sich um. Sie befand sich in einem kleinen

Zimmer, das offensichtlich als Arbeitszimmer dienen sollte,

aber ebenso offensichtlich schon seit sehr langer Zeit nicht

mehr diesem Zweck gedient hatte. Auf dem Schreibtisch

befanden sich ganze Stöße von verstaubten Papieren, und

Spinnweben hingen in Girlanden von der Decke herunter

und in den Ecken. Die Luft roch modrig.

«Wollen Sie, daß ich dieses Zimmer säubere?» fragte sie.

Der alte Mr. Crackenthorpe schüttelte energisch den

Kopf.

«Nein, ganz und gar nicht! Ich halte dieses Zimmer verschlossen.

Emma möchte hier gern herumfuhrwerken, aber

ich erlaube es ihr nicht. Es ist mein Zimmer. Sehen Sie diese

Steine? Es sind geologische Gesteinsproben.»

Lucy blickte auf eine Sammlu ng von zwölf bis vierzehn

Felsbrocken, zum Teil mit glatter Oberfläche, zum Teil rauh.

«Hübsch», sagte sie freundlich. «Sehr interessant.»

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«Sie haben ganz recht. Sie sind interessant. Ein

gescheites Mädchen! Ich zeige diese Steine nicht jedermann.

Aber ich werde Ihnen gleich noch mehr zeigen.»

«Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muß jetzt

eigentlich wieder an die Arbeit gehen. Es sind sechs Menschen

im Haus -»

«Und die bringen mich mit ihrer Gefräßigkeit um Haus

und Heim. Immer wollen sie essen! Weiter tun sie nichts,

wenn sie hier sind. Und sie denken nicht daran, für das

Essen zu bezahlen. Die reinen Blutsauger sind das. Sie

warten alle bloß darauf, daß ich sterbe – aber ich bin zäher,

als selbst Emma weiß!»

«Sicher sind Sie das.»

«Ich bin auch gar nicht so alt. Emma tut so, als sei ich ein

alter Mann, und sie behandelt mich entsprechend. Finden Sie

auch, ich sei alt?»

«Natürlich nicht>, sagte Lucy.

«Ein vernünftiges Mädchen! Sehen Sie sich das mal an!»

Er zeigte auf eine große verblichene Karte, die an der

Wand hing. Bei näherer Betrachtung sah Lucy, daß es ein

Stammbaum war. Manche Namen waren so fein

geschrieben, daß man sie nur mit Hilfe eines

Vergrößerungsglases hätte entzif fern können. Die Namen

der entfernten Vorfahren aber waren deutlich zu lesen, und

über ihren Namen waren Kronen angebracht.

«Stammen von Königen ab», sagte Mr. Crackenthorpe.

«Es ist der Stammbaum meiner Mutter – nicht der meines

Vaters. Er war ein Plebejer, ein ordinärer alter Mann! Er

mochte mich nicht, weil ich ihm immer überlegen war. Ich

hatte ein ange borenes Gefühl für Kunst, während er, der

dumme alte Narr, nichts daran finden konnte. Ich erinnere

mich nicht an meine Mutter. Sie starb, als ich zwei Jahre alt

war, als Letzte ihrer Familie. Ihr Besitz wurde gepfändet,

und sie heiratete meinen Vater. Aber sehen Sie hier: Eduard

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der Bekenner – Ethelred der Unberatene – und viele andere

aus der Zeit, bevor die Normannen kamen. Vor den

Normannen – das ist etwas, nicht wahr?»

«Ja, das ist etwas.»

«Jetzt werde ich Ihnen noch etwas anderes zeigen.» Er

führte sie durch das Zimmer, und Lucy fühlte zu ihrem

Unbehagen, wie stark seine Finger waren, die ihren Arm

umspannten. Wirklich, an dem alten Mr. Crackenthorpe war

keine Schwäche zu entdecken. Vor einem alten dunklen Eichenmöbel

blieb er stehen.

«Sehen Sie das? Stammt aus Lushington, dem

Familiensitz meiner Mutter. Möchten Sie sehen, was ich

darin aufbewahre?»

«Zeigen Sie es mir», sagte Lucy.

«Neugierig? Alle Frauen sind neugierig. »

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die

Tür des unteren Teils auf. Er nahm eine überraschend neu

aussehende Kassette heraus. Auch diese schloß er auf.

«Sehen Sie sich das einmal an.»

Er hob eine kleine, in Papier gewickelte Rolle hoch und

schob das Papier an dem einen Ende beiseite. Da rollten

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