Padington by Agatha Christie

abgeschlossen, be saß, wie allgemein anerkannt wurde, einen

hervorragenden Verstand, und jedermann erwartete, sie

würde eine steile akademische Karriere machen.

Lucy Eyelesbarrow aber besaß außer ihrer Gelehrsamkeit

noch einen vortrefflichen gesunden Menschenverstand. Es

entging ihr nicht, daß eine akademische Laufbahn eine

schlecht bezahlte war. Sie hatte nicht das geringste

Verlangen zu lehren und bevorzugte den Umgang mit

Leuten, die weniger intelligent waren als sie selber. Kurz, sie

interessierte sich für Menschen, für alle Arten von Menschen

– und nicht immer die gleichen. Außerdem hatte sie, wie sie

freimütig zugab, Sinn für Geld. Um aber Geld zu verdienen,

maß man sich einen Mangel zunutze machen.

Lucy Eyelesbarrow entdeckte sehr schnell einen außerordentlich

ernsten Mangel – den Mangel an tüchtigen Kräften

für den Haushalt. Zur Verwunderung ihrer Freunde und ihrer

akademischen Kollegen wandte Lucy Eyelesbarrow sich

daher der Hauswirtschaft zu.

Ihr Erfolg war unmittelbar und sicher. Jetzt, nach dem

Verlauf einiger Jahre, war ihr Name auf den Britischen

Inseln überall bekannt. Es war durchaus nichts

Ungewöhnliches, daß eine Frau vergnügt zu ihrem Gatten

sagte: «Alles hier wird ausgezeichnet laufen. Wir können

zusammen in die Staaten fahren. Ich habe Lucy

Eyelesbarrow bekommen!» Das Besondere bei Lucy

Eyelesbarrow war nämlich: Wenn sie einmal zu jemandem

31

ins Haus kam, dann verschwanden aus diesem aller

Kummer, alle Sorge und alle schwere Arbeit. Lucy

Eyelesbarrow tat alles, sah nach allem, ordnete alles. Sie war

unglaublich tüchtig, und zwar auf jedem nur denkbaren

Gebiet. Sie betreute ältere Angehörige, übernahm die Sorge

für die kleinen Kinder, pflegte die Kranken, kochte ausgezeichnet,

kam gut aus mit den schon lange zum Haus gehörenden

Dienstboten, sofern welche da waren (für gewöhnlich

waren welche da), war taktvoll auch den unmöglichsten

Menschen gegenüber und verstand sich wundervoll auf

Hunde. Das Beste aber war, daß sie keinerlei Arbeit scheute.

Sie schrubbte den Fußboden in der Küche, buddelte im Garten,

beseitigte den Schmutz, den die Hunde hinterlassen

hatten, und schleppte Kohlen.

Einer ihrer Grundsätze war, daß sie niemals eine

Verpflichtung für längere Zeit einging. Vierzehn Tage waren

bei ihr das Übliche, unter ganz besonderen Umständen blieb

sie einen Monat. In diesen vierzehn Tagen aber maßte man

ihr einen hohen Lohn zahlen. Andererseits war das Leben

während dieser Zeit der reine Himmel auf Erden. Man

konnte sich völlig entspannen, konnte ins Ausland reisen, zu

Hause bleiben, kurz, tun, was man wollte; denn man durfte

sicher sein, daß unter Lucy Eyele sbarrows tüchtigen Händen

daheim alles vortrefflich lief.

Natürlich war die Nachfrage nach ihren Diensten

gewaltig. Wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr ein leichtes

gewesen, für drei Jahre im voraus feste Engagements zu

erhalten. Man hatte ihr riesige Summen geboten für den Fall,

daß sie sich entschließen könnte, auf Dauer zu bleiben. Aber

Lucy hatte nicht die Absicht, dergleichen zu tun. Und sie

verpflichtete sich auch nie mehr als sechs Monate im voraus.

In der übrigen Zeit sorgte sie ohne Wissen der nach ihr

schreienden Kundschaft dafür, daß sie immer gewisse

Freizeiten hatte, die es ihr entweder ermöglichten, eine

32

kurze, kostspielige Reise zu machen (denn sie gab sonst

nichts aus und wurde, wie gesagt, glänzend bezahlt), oder

ganz plötzlich einen Auf trag zu übernehmen, der ihr

entweder wegen seines Charakters oder weil sie die Leute

gut leiden mochte, zusagte. Sie konnte sich ihre

Auftraggeber nach Lust und Laune aussuchen. Sie liebte ihre

Lebensweise sehr und fand in ihr eine ständige Quelle der

Unterhaltung.

Lucy Eyelesbarrow las zum dritten oder vierten Male den

Brief, den sie von Miss Marple erhalten hatte. Vor zwei Jahren,

als der bekannte Schriftsteller Raymond West sie engagiert

hatte, damit sie nach seiner alten Tante sähe, die nach

einer Lungenentzündung pflegebedürftig war, hatte sie Miss

Marples Bekanntschaft gemacht. Lucy hatte den Auftrag angenommen

und war nach St. Mary Mead gekommen. Miss

Marple hatte ihr ausgezeichnet gefallen.

Miss Marple schrieb an Miss Eyelesbarrow und fragte

sie, ob sie wohl einen Auftrag höchst ungewöhnlicher Art

annehmen könnte.

Lucy Eyelesbarrow überlegte. Eigentlich war sie völlig

ausgebucht, aber das Wort «ungewöhnlich» und die

Erinnerung an den persönlichen Eindruck, den Miss Marple

auf sie gemacht hatte, siegten über ihre Bedenken. Sie rief

sogleichbei Miss Marple an und erklärte ihr, sie könne nicht

nach St. Mary Mead kommen, da sie im Augenblick in

Stellung sei; am folgenden Nachmittag aber sei sie von zwei

Pages: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

Leave a Reply 0

Your email address will not be published. Required fields are marked *