S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

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Rede, gehalten in Oviedo, Spanien, anläßlich der Verleihung des Friedens-preises des Prinzen von Asturien im Oktober 1989. Für das Buch aktuali-siert.

nicht verhindern. Selbst wenn alle staatlichen Forschungsgelder gestrichen würden (die gegenwärtigen Regierungen tun in dieser Hinsicht ihr Bestes), würde die Konkurrenz noch immer für genügend technischen Fortschritt sorgen. Und niemand kann wißbegierige Geister daran hindern, über grundlegende wissenschaftliche Fragen auch dann nachzudenken, wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Die einzige Möglichkeit, die weitere Entwicklung zum Stillstand zu bringen, wäre ein weltumspannen-der totalitärer Staat, der alles Neue unterdrückte. Aber selbst er wäre dem menschlichen Unternehmungs- und Erfindungsgeist nicht gewachsen. Allenfalls könnte er das Tempo der Veränderung verlangsamen.

Doch die Einsicht, daß wir Wissenschaft und Technik nicht daran hindern können, unsere Welt zu verändern, sollte uns nicht davon abhalten, die Veränderungen in die richtige Richtung zu lenken. In einer demokratischen Gesellschaft heißt das, die Öffentlichkeit braucht wissenschaftliche Grundkenntnisse, die es ihr erlauben, fundierte Entscheidungen zu treffen, um sie nicht Fachleuten überlassen zu müssen. Gegenwärtig hat die Öffentlichkeit eine recht ambivalente Einstellung zur Wissenschaft. Während sie einerseits die ständige Verbesserung des Lebensstandards, den sie neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik verdankt, als selbstverständlich hinnimmt, mißtraut sie andererseits der Wissenschaft, weil sie sie nicht versteht. Dieses Mißtrauen zeigt sich in der Comic-Figur des verrückten Wissenschaftlers, der sich seinen Frankenstein zusammenbastelt. Es ist auch ein wesentlicher Motor für die Bewegung der Grünen.

Andererseits zeigt die Öffentlichkeit auch großes Interesse an wissenschaftlichen Fragen, besonders an der Astronomie, wie die hohen Einschaltquoten bei Fernsehserien wie Cosmos oder bei Science-fiction-Filmen zeigen.

Wie können wir dieses Interesse nutzen und der Öffentlichkeit die Kenntnisse vermitteln, die sie braucht, um fundierte

Entscheidungen über Fragen wie saurer Regen, Treibhauseffekt, Atomwaffen oder Gentechnik zu treffen? Das Grundwissen muß natürlich in der Schule vermittelt werden. Dort wird die Naturwissenschaft leider allzuoft sehr trocken und uninteressant präsentiert. Die Schüler lernen ihre Inhalte auswendig, um Prü-

fungen zu bestehen, aber sie begreifen nicht, was sie mit der wirklichen Welt um sie herum zu tun haben. Überdies wird die Naturwissenschaft oft in Form von Gleichungen gelehrt. Obwohl Gleichungen eine knappe und präzise Form zur Beschreibung mathematischer Ideen sind, verschrecken sie die meisten Menschen. Als ich kürzlich ein populärwissenschaftliches Buch schrieb, wies man mich darauf hin, daß jede Gleichung die Ver-kaufszahlen halbieren würde. Daraufhin nahm ich nur eine Gleichung auf, Einsteins berühmte Formel E = mc2. Vielleicht wären ohne sie doppelt so viele Exemplare verkauft worden.

Wissenschaftler und Ingenieure drücken ihre Ideen meist in Form von Gleichungen aus, weil sie den genauen Wert von Grö-

ßen kennen müssen. Uns anderen genügt ein qualitatives Verständnis wissenschaftlicher Konzepte, und das läßt sich unter Verzicht auf Gleichungen durch Worte und Diagramme vermitteln.

Die wissenschaftlichen Kenntnisse, die die Menschen in der Schule erwerben, können eine gewisse Grundlage bilden, aber der wissenschaftliche Fortschritt entfaltet sich mit solchem Tempo, daß man sich nach Ende der Schulzeit oder des Studiums mit immer neuen Entwicklungen vertraut machen muß. Zum Beispiel habe ich in der Schule nichts über Molekularbiologie oder Transistoren gelernt, aber Gentechnik und Computer sind die beiden Entwicklungen, die unser künftiges Leben wahrscheinlich am einschneidendsten verändern werden. Populärwissenschaftliche Bücher und Zeitschriftenartikel können dazu beitra-gen, einem breiten Publikum neue Erkenntnisse verständlich zu machen. Doch selbst das erfolgreichste populärwissenschaft-

liehe Buch wird nur von einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung gelesen. Allein das Fernsehen kann das Massenpublikum wirklich erreichen. Es gibt ein paar sehr gute Wissenschaftssen-dungen im Fernsehen, aber viele andere präsentieren wissenschaftliche Wunder wie Zauberei, ohne sie zu erklären und ohne zu zeigen, welchen Platz sie im Bezugssystem wissenschaftlichen Denkens einnehmen. Die Produzenten wissenschaftlicher Fernsehsendungen sollten sich bewußtmachen, daß es in ihrer Verantwortung liegt, das Publikum zu unterrichten und nicht nur zu unterhalten.

In welchen die Wissenschaft berührenden Fragen wird die Öffentlichkeit in naher Zukunft Entscheidungen zu treffen haben?

Die bei weitem dringlichste ist die der Kernwaffen. Andere glo-bale Probleme wie die Nahrungsversorgung oder der Treibhauseffekt entwickeln sich relativ langsam. Ein Atomkrieg könnte jedoch in wenigen Tagen alles menschliche Leben auf der Erde auslöschen. Die Ost-West-Entspannung, die wir dem Ende des Kalten Krieges verdanken, hat die Angst vor einem Atomkrieg aus dem öffentlichen Bewußtsein verbannt. Doch die Gefahr ist nach wie vor akut, solange es genügend Waffen gibt, um die gesamte Erdbevölkerung mehrfach umzubringen. In den ehe-maligen Sowjetrepubliken und in den USA sind die Atomraketen noch immer auf alle größeren Städte der nördlichen Erdhalb-kugel gerichtet. Ein Computerfehler oder eine Meuterei in einer kleinen Gruppe des Bedienungspersonals würde genügen, um einen Weltkrieg auszulösen. Noch bedenklicher ist, daß jetzt auch relativ kleine Staaten Kernwaffen erwerben. Die Groß-

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