S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Vielleicht gehe ich ein bißchen zu streng mit den Philosophen

ins Gericht, aber sie sind auch nicht gerade freundlich zu mir gewesen. Man hat meinen Ansatz als naiv und schlicht bezeichnet und mich nacheinander als Nominalisten, lnstrumenta-listen, Positivisten, Realisten und als noch manch anderen

«Isten» etikettiert. Die Methode scheint die der Widerlegung durch Verunglimpfung zu sein. Wenn man meinem Ansatz ein Etikett anheften kann, braucht man nicht zu erklären, was daran falsch ist. Denn natürlich kennt jeder die schlimmen Fehler, die allen diesen Ismen innewohnen.

Die Forscher, die tatsächlich für die Fortschritte in der theoretischen Physik sorgen, denken nicht in den Kategorien, die Philosophen und Wissenschaftshistoriker anschließend für sie erfinden. Ich bin sicher, daß Einstein, Heisenberg und Dirac sich nicht darum gekümmert haben, ob sie Realisten oder Instrumentalisten waren. Ihnen ging es einfach darum, daß die vorhandenen Theorien nicht zusammenpaßten. In der theoretischen Physik war für den Fortschritt die Suche nach logischer Stimmigkeit immer wichtiger als Experimentalergebnisse. Zwar sind schon elegante und schöne Theorien aufgegeben worden, weil sie nicht mit den Beobachtungsdaten übereinstimmten, aber ich kenne keine wichtige Theorie, die ihre Entwicklung allein Experimentaldaten zu verdanken hätte. Immer kommt zunächst die Theorie, die dem Wunsch entspringt, über ein elegantes und in sich schlüssiges mathematisches Modell zu verfü-

gen. Dann macht die Theorie Vorhersagen, die sich anhand von Beobachtungen überprüfen lassen. Wenn die Beobachtungen mit den Vorhersagen übereinstimmen, ist die Theorie damit noch nicht bewiesen, aber sie überlebt und macht weitere Vorhersagen, die dann wieder an Beobachtungsdaten überprüft werden. Stimmen die Beobachtungen nicht mit den Vorhersagen überein, gibt man die Theorie auf.

So zumindest sollte es sein. In der Praxis widerstrebt es Menschen, eine Theorie aufzugeben, in die sie viel Zeit und Mühe

investiert haben. Gewöhnlich stellen sie deshalb zunächst die Genauigkeit der Beobachtungen in Frage. Wenn das nicht klappt, versuchen sie die Theorie von Fall zu Fall so abzuändern, daß sie zu den Beobachtungen palst. Schließlich verwandelt sich die Theorie in ein schiefes und häßliches Gebäude. Dann schlägt jemand eine neue Theorie vor, die für alle störenden Beobachtungen einleuchtende natürliche Erklärungen findet. Ein Beispiel ist das Michelson-Morley-Experiment, das 1887 durchgeführt wurde. Es zeigte, daß die Lichtgeschwindigkeit immer gleich bleibt, egal wie sich Lichtquelle und Beobachter bewegen.

Das schien lächerlich zu sein. Es lag doch auf der Hand, daß jemand, der sich dem Licht entgegenbewegt, einen höheren Wert für dessen Geschwindigkeit mißt als jemand, der sich mit dem Licht in gleicher Richtung fortbewegt. Doch das Experiment zeigte, daß beide Beobachter exakt die gleiche Geschwindigkeit messen würden. Im Laufe der nächsten achtzehn Jahre versuchten Forscher wie Hendrik Lorentz und George Fitzgerald, diese Beobachtungen mit den herrschenden Auffassungen von Zeit und Raum zu vereinbaren. Sie führten Ad-hoc-Postulate ein, etwa die These, daß sich Objekte bei hoher Geschwindigkeit verkürzen. Das gesamte Bezugssystem der Physik wurde plump und häßlich. 1905 schlug Einstein dann ein weit attraktiveres Denkmodell vor, dem zufolge die Zeit nicht mehr völlig eigenständig und unabhängig existiert, sondern mit dem Raum zu einem vierdimensionalen Gebilde, der Raumzeit, verbunden ist.

Zu dieser Hypothese sah sich Einstein weniger durch die Experimentalergebnisse gedrängt als durch den Wunsch, zwei Teile der Theorie zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen: die Gesetze, die das Verhalten elektrischer und magnetischer Felder bestimmen, und jene, die der Bewegung von Körpern zugrunde liegen.

Ich glaube nicht, daß Einstein oder irgend jemand sonst 1905

begriffen hat, wie einfach und elegant die neue Relativitätstheo-

rie war. Sie hat unsere Vorstellungen von Raum und Zeit gründlich umgekrempelt. Wie dieses Beispiel sehr schön zeigt, ist es in der Wissenschaftstheorie schwierig, Realist zu sein – also die Auffassung zu vertreten, daß die Wirklichkeit unabhängig von unserer Erfahrung existiert -, denn das, was wir für wirklich halten, ist den Bedingungen der Theorie unterworfen, an der wir uns jeweils orientieren. Ich bin sicher, daß Lorentz und Fitzgerald sich selbst als Realisten sahen, als sie das Experiment zur Lichtgeschwindigkeit im Rahmen der Newtonschen Konzepte des absoluten Raums und der absoluten Zeit deuteten. Diese Vorstellungen von Raum und Zeit schienen dem gesunden Men-schenverstand und der Wirklichkeit zu entsprechen. Heute sind die Wissenschaftler, die sich in der Relativitätstheorie ausken-nen – immer noch eine bestürzend kleine Minderheit -, ganz anderer Ansicht. Wir müssen die Menschen über die modernen Versionen solch grundlegender Konzepte wie Raum und Zeit in-formieren.

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