S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Wenn das, was wir für wirklich halten, von unserer jeweiligen Theorie abhängt, wie können wir dann die Wirklichkeit zur Grundlage unserer Philosophie machen? Ich würde sagen, ich bin tatsächlich insofern ein Realist, als ich glaube, daß uns ein Universum umgibt, das daraufwartet, untersucht und verstanden zu werden. Die solipsistische Position, nach der alles nur ein Produkt unserer Einbildungskraft ist, halte ich für reine Zeitver-schwendung. Auf dieser Basis handelt kein Mensch. Aber ohne eine Theorie können wir nicht erkennen, was am Universum real ist. Deshalb vertrete ich die Auffassung, die man als schlicht oder naiv bezeichnet hat, daß eine physikalische Theorie nur ein mathematisches Modell ist, mit dessen Hilfe wir die Ergebnisse unserer Beobachtungen beschreiben. Eine Theorie ist eine gute Theorie, wenn sie ein elegantes Modell ist, wenn sie eine umfassende Klasse von Beobachtungen beschreibt und wenn sie die Ergebnisse weiterer Beobachtungen vorhersagt. Darüber hinaus

hat es keinen Sinn zu fragen, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, weil wir nicht wissen, welche Wirklichkeit gemeint ist. Vielleicht macht mich diese Auffassung von wissenschaftlichen Theorien zu einem Instrumentalisten oder Positivisten –

wie oben erwähnt, hat man mich mit beiden Etiketten versehen.

Der Autor, der mich als Positivisten bezeichnet hat, meinte im Fortgang seiner Ausführungen, es wisse doch jeder, daß der Positivismus überholt sei – ein weiterer Fall von Widerlegung durch Verunglimpfung. Mag sein, daß er wirklich überholt ist, insofern er die intellektuelle Mode von gestern darstellt. Doch die positivistische Position, so wie ich sie umrissen habe, scheint mir die einzig mögliche Haltung für jemanden zu sein, der nach neuen Gesetzen und nach neuen Möglichkeiten sucht, das Universum zu beschreiben. Es hat keinen Zweck, sich auf die Wirklichkeit zu berufen, weil wir kein modellunabhängiges Konzept der Wirklichkeit besitzen.

Nach meiner Meinung ist der unausgesprochene Glaube an eine modellunabhängige Wirklichkeit der tiefere Grund für die Schwierigkeiten, die Wissenschaftsphilosophen mit der Quantenmechanik und dem Unbestimmtheitsprinzip haben. Es gibt ein berühmtes Gedankenexperiment – Schrödingers Katze. Eine Katze wird in eine festverschlossene Kiste gesperrt. Auf sie ist ein Gewehr gerichtet, das einen Schuß abfeuert, wenn ein radio-aktiver Kern zerfällt, was mit einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit geschieht. (Heute würde niemand so etwas auch nur als Gedankenexperiment vorzuschlagen wagen, aber zu Schrödingers Zeiten hatte man von Tierschutz noch nicht viel gehört.)

Wenn man die Kiste öffnet, ist die Katze entweder tot oder lebendig, aber bevor die Kiste geöffnet wird, ist der Quantenzu-stand der Katze eine Mischung aus dem Zustand «tote Katze»

und dem Zustand «lebendige Katze». Damit können sich einige Philosophen der Naturwissenschaft nur schwer abfinden. Die

Katze kann nicht halb erschossen und halb nichterschossen sein, meinen sie, sowenig wie eine Frau halb schwanger sein kann.

Ihre Schwierigkeit kommt daher, daß sie sich implizit an einem klassischen Wirklichkeitsbegriff orientieren, in dem ein Objekt nur eine einzige bestimmte Geschichte hat. Die Besonderheit der Quantenmechanik liegt darin, daß sie ein anderes Bild von der Wirklichkeit vermittelt. Danach hat ein Objekt nicht nur eine einzige Geschichte, sondern alle Geschichten, die möglich sind.

In den meisten Fällen hebt sich die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Geschichte zu haben, gegen die Wahrscheinlichkeit auf, eine etwas andere Geschichte zu haben; doch in bestimmten Fällen verstärken sich die Wahrscheinlichkeiten benachbarter Geschichten gegenseitig – und es ist eine dieser verstärkten Geschichten, die wir dann als die Geschichte des Objekts beobachten.

Im Falle von Schrödingers Katze werden zwei Geschichten verstärkt. In der einen wird die Katze erschossen, während sie in der anderen am Leben bleibt. In der Quantentheorie können beide Möglichkeiten nebeneinander existieren. Doch einige Philosophen können sich mit dieser Situation nicht abfinden, weil sie stillschweigend voraussetzen, die Katze könne nur eine Geschichte haben.

Das Wesen der Zeit ist ein anderes Beispiel für einen Bereich, in dem die physikalischen Theorien unseren Wirklichkeitsbegriff bestimmen. Einst hielt man es für selbstverständlich, daß die Zeit ewig fließt, ganz gleich, was geschieht. Aber die Relativitätstheorie verband die Zeit mit dem Raum und sagte, beide könnten durch die Materie und Energie im Universum ge-krümmt werden. Deshalb wandelte sich unsere Auffassung, und wir sahen die Zeit nicht mehr unabhängig vom Universum, sondern seinem Einfluß unterworfen. Damit wurde denkbar, daß die Zeit vor einem bestimmten Punkt einfach noch nicht definiert war. Ginge man zurück in der Zeit, stieße man

vielleicht auf ein unüberwindliches Hindernis: eine Singularität, über die man nicht hinausgelangen könnte. Wäre dies der Fall, so hätte es keinen Sinn zu fragen, wer oder was den Urknall verursacht oder geschaffen hat. Wenn man über Verursachung oder Schöpfung spricht, setzt man implizit voraus, daß es eine Zeit vor der Urknallsingularität gab. Seit fünfundzwanzig Jahren wissen wir, daß die Zeit nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie vor fünfzehn Milliarden Jahren einen Anfang in einer Singularität gehabt haben muß. Doch die Philosophen sind noch nicht ganz auf der Höhe dieser Erkenntnis. Sie zerbrechen sich noch immer den Kopf über die Grundlagen der Quantenmechanik, die vor fünfundsechzig Jahren entwickelt wurde.

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