S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Ihnen ist nicht klar, daß die Physik längst andere Gebiete erschlossen hat.

Noch schlimmer verhält es sich mit dem mathematischen Konzept der imaginären Zeit, in dessen Rahmen Jim Hartle und ich die Hypothese vorgetragen haben, das Universum habe weder einen Anfang noch ein Ende. Ein Wissenschaftstheoretiker hat mir schwerste Vorwürfe gemacht, weil ich die imaginäre Zeit ins Spiel gebracht habe. Er sagte: Wie kann ein mathematischer Trick wie die imaginäre Zeit irgend etwas mit dem realen Universum zu tun haben? Ich nehme an, dieser Philosoph hat die Art, wie die mathematischen Termini reelle und imaginäre Zahl verwendet werden, mit dem Gebrauch von «real» und «imaginär» in der Alltagssprache verwechselt. Das trifft genau den Punkt, um den es mir geht: Wie können wir wissen, was real ist, wenn wir uns nicht an eine Theorie oder ein Modell halten, mit dem wir den Realitätsbegriff interpretieren?

Ich habe Beispiele aus der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik herangezogen, um zu zeigen, auf welche Probleme man stößt, wenn man versucht, sich ein Bild vom Universum zu machen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob Sie die Relativitätstheorie und Quantenmechanik verstehen, ja nicht einmal, ob

diese Theorien richtig oder falsch sind. Mir ging es hier nur um den – hoffentlich gelungenen – Beweis, daß eine Art positivistischer Ansatz, nach dem eine Theorie immer als ein Modell aufgefaßt wird, der einzige Weg ist, das Universum verstehen zu lernen – zumindest für einen theoretischen Physiker. Wenn mich meine Zuversicht nicht täuscht, werden wir eines Tages ein in sich schlüssiges Modell finden, das alles im Universum beschreibt. Gelingt uns das, wird es ein wirklicher Triumph für die Menschheit sein.

Einsteins

Traum *

Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei neue Theorien unsere Vorstellungen vom Raum und Zeit, ja der Wirklichkeit selbst, gründlich verändert. Mehr als fünfundsechzig Jahre später sind wir noch immer damit beschäftigt, ihre Konsequenzen zu sondieren und die beiden Systeme zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, die – wenn dies ge-länge – alles im Universum beschriebe. Es handelt sich um die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Die allgemeine Relativitätstheorie befaßt sich mit Raum und Zeit und ihrer Krümmung in großem Maßstab unter dem Einfluß der Materie und Energie im Universum. Dagegen erfaßt die Quantenmechanik die Welt sehr kleiner Dimensionen. Zu ihr gehört das sogenannte Unbestimmtheitsprinzip (Unschärferelation), nach dem sich der Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens nicht zur gleichen Zeit exakt messen lassen. Stets bleibt ein Element der Unbestimmtheit oder des Zufalls, das sich auf das Verhalten der Materie in kleinen Größenordnungen entschei-

*

Vortrag, gehalten beim «Paradigmen-Workshop» der NTT Data Communications Systems Corporation in Tokio, Juli 1991.

dend auswirkt. Einstein hat die allgemeine Relativitätstheorie fast im Alleingang geschaffen und eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Quantenmechanik gespielt. Seine Einstellung zu letzterer faßte er in dem Satz zusammen: «Der liebe Gott würfelt nicht.» Doch alles spricht dafür, (.laß Gott ein unverbesserlicher Spieler ist und bei jeder sich bietenden Gelegenheit würfelt.

In diesem Aufsatz werde ich versuchen, die Grundideen dar-zulegen, auf denen die beiden Theorien beruhen, und erklären, warum Einstein mit der Quantenmechanik so unglücklich war.

Von einigen der bemerkenswerten Dinge, die sich zu ereignen scheinen, wenn man die beiden Theorien zu vereinigen sucht, soll hier die Rede sein. Sie lassen darauf schließen, daß die Zeit vor ungefähr fünfzehn Milliarden Jahren einen Anfang hatte.

Vielleicht wird sie auch irgendwann in der Zukunft ein Ende finden. In einer Zeit anderer Art hat das Universum dagegen keine Grenze. Danach wurde es weder erschaffen, noch wird es zerstört werden. Es ist einfach.

Lassen Sie mich mit der Relativitätstheorie beginnen. Nationale Gesetze gelten nur innerhalb eines Landes. Dagegen gelten die physikalischen Gesetze in England genauso wie in den USA und in Japan. Sie sind auch in gleicher Form auf dem Mars und im Andromedanebel gültig. Nicht nur das, die Gesetze bleiben unverändert, egal mit welcher Geschwindigkeit Sie sich fortbewegen. Ob Sie im Hochgeschwindigkeitszug sitzen, im Düsenjet oder sich nicht vom Fleck rühren, in allen Fällen gelten die gleichen Gesetze. Natürlich bewegt sich auch jemand, der seinen Standort auf der Erde nicht verändert, mit ungefähr 30 Kilometern pro Sekunde um die Sonne. Diese wiederum kreist mit mehreren hundert Kilometern pro Sekunde um das Zentrum unserer Galaxis und so fort. Doch alle diese Bewegungen bleiben ohne Einfluß auf die physikalischen Gesetze. Sie sind gleich für alle Beobachter.

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