S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

dann wird es wieder langsamer. Auf diese Weise gestattet das Unbestimmtheitsprinzip einigen Teilchen, aus einem Schwarzen Loch zu entkommen, das also doch kein so ausbruchsicheres Gefängnis zu sein scheint, wie man bis dahin angenommen hatte. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Teilchen aus einem Schwarzen Loch von der Masse unserer Sonne entweicht, ist sehr gering, weil das Teilchen sich über mehrere Kilometer schneller als das Licht bewegen müßte. Doch möglicherweise gibt es beträchtlich kleinere Schwarze Löcher, die sich im sehr frühen Universum gebildet haben. Solche urzeitlichen Schwarzen Löcher könnten kleiner als ein Atomkern sein, ihre Masse betrüge indessen hundert Milliarden Tonnen, was etwa der Masse des Fudschijama entspricht. Es könnte soviel Energie wie ein großes Kraftwerk abgeben. Dazu müßte man allerdings eines dieser kleinen Schwarzen Löcher entdecken und seine Energie nutzbar machen können! Leider scheint es im Universum nicht allzu viele zu geben.

Die Vorhersage, daß Schwarze Löcher Strahlung abgeben, war das erste nichttriviale Ergebnis aus der Vereinigung der Ein-steinschen Relativitätstheorie mit dem Quantenprinzip. Sie zeigte, daß der Gravitationskollaps nicht die Sackgasse ist, für die man ihn bisher gehalten hatte. Die Teilchen in einem Schwarzen Loch müssen ihre Geschichten nicht an einer Singularität beenden, sondern können aus dem Loch entkommen und ihre Geschichten draußen fortsetzen. Vielleicht wird sich aus dem Quantenprinzip auch ergeben, daß die Geschichten nicht zwangsläufig einen Anfang in der Zeit, einen Schöpfungspunkt im Urknall haben müssen.

Diese Frage ist allerdings sehr viel schwerer zu beantworten, weil dazu das Quantenprinzip auf die Struktur von Raum und Zeit selbst und nicht nur auf Teilchenwege in einem gegebenen

Raumzeithintergrund anzuwenden ist. Erforderlich ist eine Methode, mit der sich die Aufsummierung von Möglichkeiten nicht nur für Teilchen, sondern auch für das gesamte Gefüge von Raum und Zeit vornehmen läßt. Noch können wir diese Aufsummierung nicht einwandfrei ausführen, aber wir kennen bestimmte Eigenschaften, die sie haben müßte. So wissen wir unter anderem, daß es leichter ist, die Geschichten in der sogenannten imaginären Zeit aufzusummieren als in der normalen, realen Zeit. Die imaginäre Zeit ist ein schwieriger Begriff, der den Lesern meines Buches wohl die meisten Probleme bereitet hat. Auch die Philosophen sind deswegen hart mit mir ins Gericht gegangen. Wie kann die imaginäre Zeit, argumentierten sie, das geringste mit dem realen Universum zu tun haben? Ich glaube, diese Philosophen haben nichts aus der Geschichte gelernt. Einst hielt man es für selbstverständlich, daß die Erde flach sei und die Sonne die Erde umkreise. Doch seit der Zeit von Kopernikus und Galilei müssen wir uns mit dem Gedanken abfinden, daß die Erde rund ist und sich um die Sonne bewegt. Für ebenso selbstverständlich hielt man es, daß die Zeit für jeden Beobachter gleich schnell oder langsam verstreicht. Doch seit Einstein sind wir zum Umdenken gezwungen: Die Zeit verstreicht für verschiedene Beobachter verschieden rasch. Unbestritten schien auch zu sein, daß das Universum nur eine einzige Geschichte hat. Doch seit der Entdeckung der Quantenphysik müssen wir davon ausgehen, daß es jede mögliche Geschichte hat. Ich möchte damit deutlich machen, daß die imaginäre Zeit ein Begriff ist, mit dem wir uns ebenfalls werden abfinden müssen. Es ist ein geistiger Sprung von der gleichen Art wie die Erkenntnis, daß die Erde rund ist. Eines Tages werden wir die imaginäre Zeit für ebenso selbstverständlich halten wie heute die Rundung der Erde. In der zivilisierten Welt gibt es nicht mehr viele, die die Erde als Scheibe betrachten.

Die normale, reale Zeit kann man sich als horizontale Linie vorstellen, die von links nach rechts verläuft. Frühe Zeiten be-

finden sich links, späte Zeiten rechts. Man kann sich aber auch eine andere Zeitrichtung vorstellen – von oben nach unten auf der vor Ihnen liegenden Seite. Dies ist die sogenannte imaginäre Zeitrichtung, die rechtwinklig zur realen Zeit verläuft.

Welchen Vorteil hat es, das Konzept der imaginären Zeit einzuführen? Warum können wir nicht bei der normalen, realen Zeit bleiben, die wir verstehen? Der Grund ist, daß Materie und Energie, wie erwähnt, die Raumzeit in sich krümmen. In der realen Zeitrichtung führt das unvermeidlich zu Singularitäten, Örtern, an denen die Raumzeit endet. An Singularitäten lassen sich die Gleichungen der Physik nicht definieren, so daß man nicht vorhersagen kann, was geschehen wird. Die imaginäre Zeitrichtung hingegen verläuft rechtwinklig zur realen Zeit. Das heißt, sie verhält sich auch in gleicher Weise zu den drei Richtungen, die einer Bewegung im Raum entsprechen. Die Raumzeitkrümmung, die durch die Materie im Universum hervorgerufen wird, kann unter diesen Bedingungen dazu führen, daß sich die drei Raumrichtungen und die imaginäre Zeitrichtung auf der Rückseite treffen, so daß sie eine geschlossene Fläche wie die Erdoberfläche bilden. Die drei Raumrichtungen und die imaginäre Zeit würden eine Raumzeit bilden, die, ohne Grenzen und Ränder, in sich geschlossen wäre. Sie hätte keinen Punkt, den man Anfang oder Ende nennen könnte, sowenig wie die Oberfläche der Erde einen Anfang oder ein Ende hat.

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