S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Es wäre natürlich sehr schön für die Wissenschaft, wenn sich das Universum im Keine-Grenzen-Zustand befände. Doch wie können wir entscheiden, ob das der Fall ist? Die Antwort lautet, daß die Keine-Grenzen-Hypothese bestimmte Vorhersagen über das Verhalten des Universums macht. Wenn diese Vorhersagen nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen, können wir daraus schließen, daß sich das Universum nicht im Keine-Grenzen-Zustand befindet. Mithin ist die Keine-Grenzen-Hypothese eine gute wissenschaftliche Theorie in dem Sinne, wie sie der Philosoph Karl Popper definiert hat: Sie läßt sich durch Beobachtung falsifizieren.

Würden sich die Beobachtungen nicht mit den Vorhersagen decken, so wüßten wir, daß es in der Klasse möglicher Geschichten Singularitäten geben muß. Doch das wäre alles, was wir wissen könnten. Die Wahrscheinlichkeiten der singulären Geschichten ließen sich nicht berechnen. Es wäre uns also nicht

möglich vorherzusagen, wie sich das Universum verhalten muß.

Man könnte meinen, diese Unvorhersagbarkeit würde keine große Rolle spielen, wenn sie nur im Urknall aufträte – der liegt doch schließlich schon zehn oder zwanzig Milliarden Jahre zu-rück. Doch wenn die Vorhersagbarkeit in den starken Gravita-tionsfeldern des Urknalls zusammengebrochen wäre, könnte das auch bei jedem Sternenkollaps passieren – allein in unserer Galaxis mehrere Male pro Woche. Mithin wäre es, selbst im Vergleich zu Wetterprognosen, nicht weit her mit unserer Vorhersagefähigkeit.

Natürlich könnte man sagen, man brauche sich nicht um einen Zusammenbruch der Vorhersagbarkeit zu kümmern, der sich in einem fernen Stern ereigne. Doch nach der Quantentheorie kann und wird alles geschehen, was nicht ausdrücklich verbo-ten ist. Wenn also zur Klasse möglicher Geschichten auch Räume mit Singularitäten gehören, können diese Singularitäten überall auftreten, nicht nur im Urknall und in kollabierenden Sternen. Das würde bedeuten, daß wir nichts vorhersagen könnten. Hingegen ist die Tatsache, daß wir in der Lage sind, Ereignisse vorherzusagen, ein empirischer Anhaltspunkt, der gegen Singularitäten und für die Keine-Grenzen-Hypothese spricht.

Was also sagt die Keine-Grenzen-Hypothese für das Universum vorher? Da ist zunächst festzustellen, daß jede Größe, die man als Zeitmaß verwendet, einen höchsten und einen niedrig-sten Wert besitzen muß, weil alle möglichen Geschichten für das Universum endlich in ihrer Ausdehnung sind. Das Universum wird folglich einen Anfang und ein Ende haben. Der Anfang in der realen Zeit wird die Urknallsingularität sein. In der imaginä-

ren Zeit dagegen wird es am Anfang keine Singularität geben.

Dort wird der Anfang eher dem Nordpol der Erde analog sein.

Wenn man die Breitengrade auf der Erdoberfläche als Analogien zur Zeit nimmt, könnte man sagen, daß die Fläche der Erde am Nordpol beginnt. Doch der Nordpol ist ein ganz gewöhnlicher

Punkt auf der Erde. Er hat keine besonderen Eigenschaften; am Nordpol gelten die gleichen Naturgesetze wie an allen anderen Orten der Erde. Entsprechend wäre das Ereignis, für das wir die Bezeichnung «der Anfang des Universums in imaginärer Zeit»

wählen würden, ein gewöhnlicher Raumzeitpunkt – ein Punkt wie jeder andere. Die Naturgesetze wären mithin am Anfang ebenso gültig wie überall sonst.

Aus der Analogie mit der Erdoberfläche könnte man schlie-

ßen, das Ende des Universums gleiche dem Anfang, so wie der Nordpol dem Südpol ähnelt. Doch Nord- und Südpol entsprechen dem Anfang und Ende der Geschichte des Universums nur in imaginärer Zeit, nicht in der realen, die wir erleben. Extrapoliert man die Ergebnisse der Aufsummierung von Möglichkeiten aus der imaginären in die reale Zeit, stellt man fest, daß sich der Anfang des Universums in der realen Zeit von seinem Ende sehr unterscheiden kann.

Jonathan Halliwell und ich haben in einem Näherungsverfahren berechnet, welche Konsequenzen sich aus der Keine-Grenzen-Bedingung ergeben würden. Wir haben das Universum als vollkommen glatten und gleichförmigen Hintergrund behan-delt, auf dem es zu geringfügigen Dichteschwankungen kommt.

In der realen Zeit hatte es den Anschein, als begänne das Universum seine Expansion mit einem sehr kleinen Radius. Zunächst wäre die Expansion ein sogenannter inflationärer Prozeß. Das heißt, das Universum verdoppelte seine Größe in jedem winzigen Sekundenbruchteil, so wie sich in manchen Ländern die Preise jedes Jahr verdoppeln. Den Weltrekord in wirtschaftlicher Inflation dürfte Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aufgestellt haben, wo der Preis für ein Brot in wenigen Monaten von ein paar Groschen auf mehrere Millionen Reichsmark kletterte.

Doch das ist nichts im Vergleich zu der Inflation, die im frühen Universum stattgefunden zu haben scheint: ein Größenzuwachs um einen Faktor von mindestens einer Million Million Million

Million Million in einem winzigen Sekundenbruchteil. Das war natürlich lange bevor wir unsere gegenwärtige Regierung hatten.

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