S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

ten, deren Selektion solchen Zwecken gedient hat, uns unter den gründlich veränderten Lebensbedingungen der heutigen Zeit noch so gut zustatten kommen. Wahrscheinlich hat die Entdek-kung einer großen vereinheitlichten Theorie oder die Beantwor-tung von Fragen zum Determinismus keinen sonderlichen Überlebenswert. Dennoch könnte uns die Intelligenz, die wir aus ganz anderen Gründen entwickelt haben, in die Lage versetzen, die richtigen Antworten auf diese Fragen zu finden.

Wenden wir uns nun dem dritten Problem zu, der Frage des freien Willens und der Verantwortung für unser Handeln. Subjektiv haben wir das Gefühl, daß wir frei wählen können, was wir sind und tun. Doch das könnte eine Illusion sein. Einige Men-

sehen denken, sie seien Jesus Christus oder Napoleon, aber sie können schwerlich recht haben. Gewißheit darüber, ob ein Organismus einen freien Willen hat oder nicht, kann nur ein objektiver Test bringen, der von außen vorgenommen wird. Nehmen wir beispielsweise an, ein kleiner grüner Mann von einem anderen Stern würde uns besuchen. Wie könnten wir entscheiden, ob er einen freien Willen hat oder ob er nur ein Roboter ist, darauf programmiert, den Eindruck zu erwecken, er sei wie wir?

Den einzigen objektiven Test seines freien Willens scheint die Frage zu liefern: Läßt sich das Verhalten des Organismus vorhersagen? Ist dies der Fall, hat er ganz offensichtlich keinen freien Willen, sondern ist in seinem Handeln vorherbestimmt.

Läßt sich andererseits das Verhalten nicht vorhersagen, kann man das als operative Definition verstehen, die besagt, daß der Organismus einen freien Willen hat.

Gegen diese Definition des freien Willens läßt sich einwen-den, daß wir in der Lage sein werden, das Verhalten von Menschen vorherzusagen, sobald wir eine vollständige vereinheitlichte Theorie entdeckt haben. Doch auch das menschliche Gehirn ist dem Unbestimmtheitsprinzip unterworfen. Also gibt es in unserem Verhalten ein aus der Quantenmechanik folgendes Zufallselement. Allerdings sind die an der Hirntätigkeit beteiligten Energien nicht groß. Deshalb wirkt sich die Unbestimmtheit der Quantenmechanik nur geringfügig aus. Tatsächlich können wir menschliches Verhalten nicht vorhersagen, weil es schlicht zu schwierig ist. Die grundlegenden physikalischen Gesetze, denen die Gehirnaktivität folgt, kennen wir bereits, und sie sind vergleichsweise einfach. Aber es ist zu schwer, die Gleichungen zu lösen, wenn mehr als ein paar Teilchen beteiligt sind. Selbst in der einfacheren Gravitationstheorie von Newton lassen sich die Gleichungen nur im Falle zweier Teilchen exakt lösen. Bei drei oder mehr Teilchen muß man schon auf Näherungsverfahren ausweichen, und die Schwierigkeiten wachsen mit der Anzahl

der Teilchen rasch an. Das menschliche Gehirn enthält etwa 1026

oder hundert Millionen Milliarden Milliarden Teilchen. Diese Zahl ist bei weitem zu groß, um jeweils auf eine Lösung der Gleichungen hoffen und das Verhalten des Gehirns auf Grund des Anfangszustandes und der eintreffenden Sinnesdaten vorhersagen zu können. In Wirklichkeit sind wir natürlich noch nicht einmal in der Lage, den Anfangszustand zu messen, weil wir dazu das Gehirn auseinandernehmen müßten. Und selbst wenn wir dazu bereit wären, gäbe es einfach viel zu viele Teilchen zu registrieren. Außerdem reagiert das Gehirn wahrscheinlich sehr empfindlich auf den Anfangszustand: Eine kleine Veränderung in diesem Zustand dürfte erhebliche Konsequenzen für das nachfolgende Verhalten haben. Obwohl wir also die grundlegenden Gleichungen kennen, nach denen Hirnaktivitä-

ten ablaufen, sind wir keineswegs in der Lage, sie zur Vorhersage menschlichen Verhaltens zu verwenden.

Vor dieser Situation stehen wir in der Wissenschaft immer dann, wenn wir es mit einem makroskopischen System zu tun haben, weil die Anzahl seiner Teilchen so groß ist, daß nicht die geringste Chance besteht, die fundamentalen Gleichungen zu lö-

sen. Statt dessen halten wir uns in diesen Fällen an operative Theorien. Das sind Näherungsverfahren, in denen die sehr große Teilchenzahl durch einige wenige Größen ersetzt wird.

Ein Beispiel ist die Strömungsmechanik. Eine Flüssigkeit wie Wasser besteht aus Milliarden von Milliarden Molekülen, die ihrerseits aus Elektronen, Protonen und Neutronen zusammen-gesetzt sind. Trotzdem ist es ein gutes Näherungsverfahren, die Flüssigkeit als kontinuierliches Medium zu behandeln, das durch Geschwindigkeit, Dichte und Temperatur gekennzeichnet ist. Die operative Theorie der Strömungsmechanik liefert zwar keine exakten Vorhersagen – das zeigt jede Wetterprognose -, aber sie sind gut genug, um nach ihren Vorgaben Schiffe und Pipelines zu konstruieren.

Ich meine, daß die Begriffe des freien Willens und der moralischen Verantwortung für unser Handeln eine operative Theorie im Sinne der Strömungsmechanik sind. Mag sein, daß alles, was wir tun, durch eine große vereinheitlichte Theorie bestimmt ist.

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