S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Aus den grundlegenden Gesetzen läßt sich menschliches Verhalten aus den erläuterten Gründen nicht ableiten. Aber man kann hoffen, daß wir uns sowohl die Intelligenz als auch die Fähigkeit des logischen Denkens zunutze machen können, die wir dank der natürlichen Selektion entwickelt haben. Leider hat die natürliche Selektion bei uns auch andere Merkmale ausgebildet, zum Beispiel die Aggression. Diese war zur Zeit der Höhlenbewohner und noch früher für das Überleben von Vorteil und wurde deshalb von der natürlichen Selektion bevorzugt. Doch durch den gewaltigen Zuwachs an Massenvernichtungsmitteln, den uns die moderne Wissenschaft und Technik beschert hat, ist die Aggression zu einer sehr gefährlichen Eigenschaft geworden, die nun das Überleben der Menschheit bedroht. Das Problem ist,

daß unsere aggressiven Instinkte in der DNA verschlüsselt zu sein scheinen. Diese verändert sich durch biologische Evolution nur über Zeiträume von Jahrmillionen, während unser Vernich-tungspotential jetzt auf einer Zeitskala für die Evolution von Informationen in Sprüngen von zwanzig oder dreißig Jahren wächst. Gelingt es uns nicht, unsere Intelligenz zur Kontrolle unserer Aggression einzusetzen, stehen die Chancen für die Menschheit schlecht. Doch solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung. Wenn wir die nächsten hundert Jahre überleben, werden wir unseren Lebensraum auf andere Planeten und möglicherweise andere Sterne ausgedehnt haben. Dadurch wird sich die Wahrscheinlichkeit verringern, daß die gesamte Menschheit durch ein Unheil wie einen Atomkrieg ausgelöscht werden könnte.

Rekapitulieren wir: Ich habe einige der Probleme erörtert, die sich ergeben, wenn man davon ausgeht, daß alles im Universum vorherbestimmt ist. Dabei macht es keinen großen Unterschied, ob diese Vorherbestimmtheit durch einen allgegenwärtigen Gott oder durch die Naturgesetze zustande kommt. Denn es ließe sich ja immer sagen, daß sich in den Naturgesetzen Gottes Wille ausdrückt.

Drei Fragen habe ich erörtert. Die erste lautete: Wie können die Komplexität des Universums und alle seine trivialen Einzelheiten von einem einfachen Gleichungssystem bestimmt werden? Kann man umgekehrt wirklich glauben, daß Gott alle trivialen Einzelheiten festgelegt hat, wie etwa die Frage, wer auf der Titelseite des Cosmopolitan stehen soll ? Die Antwort scheint zu sein, daß es nach dem Unbestimmtheitsprinzip der Quantenmechanik nicht nur eine einzige Geschichte für das Universum gibt, sondern eine ganze Familie möglicher Geschichten. Diese Geschichten können sich, sehr großräumig betrachtet, gleichen, in normalen, alltäglichen Größenverhältnissen aber erhebliche Unterschiede aufweisen. Wir leben in einer bestimmten Ge-

schichte, die durch bestimmte Eigenschaften und Einzelheiten charakterisiert ist. Doch es gibt ähnliche intelligente Lebewesen in Geschichten, die sich etwa darin unterscheiden, wer den Krieg gewonnen hat und welche Platten in die Hitparade kommen.

Mithin entstehen die trivialen Einzelheiten unseres Universums, weil die fundamentalen Gesetze die Quantenmechanik mit ihrem Element von Unbestimmtheit oder Zufall enthalten.

Die zweite Frage war: Wenn alles durch eine fundamentale Theorie bestimmt ist, dann ist auch das, was wir über die Theorie sagen, durch die Theorie bestimmt. Und warum sollte vorherbestimmt sein, daß das, was wir über die Theorie sagen, richtig ist und nicht einfach falsch oder irrelevant? In meiner Antwort darauf habe ich mich auf Darwins Theorie der natürlichen Selektion berufen: Nur die Individuen, die die richtigen Schlußfolgerungen über ihre Umwelt ziehen, werden in der Regel zum Überleben und zur Reproduktion fähig sein.

Die dritte Frage war: Wenn alles vorherbestimmt ist, was wird aus dem freien Willen und der Verantwortung für unser Handeln? Doch ob ein Organismus einen freien Willen hat, läßt sich objektiv nur testen durch die Frage, ob sich sein Verhalten vorhersagen läßt. Im Falle des Menschen sind wir völlig unfähig, anhand der Naturgesetze vorherzusagen, was Menschen tun werden – und zwar aus zwei Gründen. Erstens können wir die Gleichungen für die sehr große Zahl von beteiligten Teilchen nicht lösen. Zweitens, selbst wenn wir die Gleichungen lösen könnten, würde die Vorhersage das System stören und zu veränderten Ergebnissen führen. Wenn wir also nicht in der Lage sind, menschliches Verhalten vorherzusagen, können wir auch die operative Theorie zugrunde legen, daß Menschen freie Wesen sind, die sich für oder gegen eine Handlung entscheiden. Offenbar ist der Glaube an den freien Willen und an die Verantwortung für unser Handeln von hohem Überlebenswert. Das heißt, dieser Glaube müßte durch die natürliche Selektion verstärkt

werden. Ob das sprachlich vermittelte Verantwortungsgefühl ausreicht, um den DNA-vermittelten Aggressionstrieb unter Kontrolle zu halten, bleibt abzuwarten. Wenn nicht, wird die Menschheit eine der Sackgassen der natürlichen Selektion gewesen sein. Vielleicht hat eine andere Spezies intelligenter Lebewesen irgendwo in der Galaxis ein besseres Gleichgewicht zwischen Verantwortung und Aggression herstellen können. Doch wenn das so wäre, hätte man erwarten müssen, daß sie schon Kontakt mit uns aufgenommen oder daß wir zumindest ihre Radiosignale aufgefangen hätten. Vielleicht wissen sie von unserer Existenz, möchten sich uns aber nicht zu erkennen geben. Angesichts der menschlichen Geschichte könnte das ein weiser Entschluß sein.

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