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Padington by Agatha Christie

gewürgt wurde, aber doch nicht tot war. Möglicherweise war

sie imstande, den Zug auf ihren eigenen Beinen zu

verlassen.»

«Schwerlich ohne Hilfe», entgegnete Miss Marple. «Und

hätte jemand ihr geholfen, so wäre es bemerkt worden. Ein

Mann, der eine Frau stützt, die, wie er behauptet, krank ist,

fällt auf. »

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Aber dieser Tag verging und auch der nächste. Erst am

Abend erhielt Miss Marple ein Schreiben von Sergeant Cornish.

In Bezug auf die Angelegenheit, die Sie mir vorgetragen

haben, möchte ich bemerken, daß Untersuchungen eingeleitet

wurden, die aber zu keinem Ergebnis geführt haben. Es

wurde keine Frauenleiche gefunden. In keinem Krankenhaus

wurde eine Frau, wie Sie sie beschrieben, eingelie fert. Und

es wurde auch keine Frau beobachtet, die an

einem Schock litt oder unwohl geworden war oder, ge-

stützt von einem Mann, einen Bahnhof verließ. Sie

dürfen überzeugt sein, daß die Nachforschungen mit allem

Ernst betrieben wurden. Ich bin der Meinung, daß Ihre

Freundin die von ihr beschriebene Szene beobachtet hat,

diese aber dann bedeutend weniger ernst war, als es den

Anschein hatte.

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«Weniger ernst? Dummes Zeug!» meinte Mrs.

McGillicuddy. «Es war Mord!»

Sie blickte Miss Marple herausfordernd an. «Heraus mit

der Sprache, Jane», sagte Mrs. McGillicuddy. , sagte Miss Marple nachdenklich,

«daß du noch mehr tun kannst, als du schon getan hast.»

(Wenn Mrs. McGillicuddy genau auf den Tonfall, mit dem

ihre Freundin das sagte, geachtet hätte, dann wäre ihr

vielleicht aufgefallen, daß sie das Wort «du» leicht betont

hatte.) «Du hast berichtet, was du gesehen hast, du hast den

Vorfall der

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Eisenbahn und der Polizei gemeldet. Wirklich, jetzt

kannst du nichts weiter tun.»

«Das ist in gewisser Hinsicht ein Trost», erwiderte Mrs.

McGillicuddy. «Ich werde nämlich unmittelbar nach Weihnachten,

wie du weißt, zu Roderick nach Ceylon fahren, und

ich habe wirklich nicht den Wunsch, diesen Besuch

aufzuschieben. Ich freue mich schon so lange darauf! Aber

natürlich würde ich hierbleiben, wenn ich es für meine

Pflicht hielte», fügte sie gewissenhaft hinzu.

«Daran zweifle ich nicht, Elsbeth. Aber, wie gesagt, meiner

Meinung nach hast du alles getan, was du tun konntest.»

«Es ist Sache der Polizei», bekräftigte Mrs.

McGillicuddy. «Und wenn die Polizei etwa zu dumm sein

sollte -»

Miss Marple schüttelte entschieden den Kopf.

«Oh, nein», sagte sie, «die Polizei ist nicht dumm. Und

das macht die Sache interessant, nicht wahr?»

Mrs. McGillicuddy blickte sie verständnislos an. Miss

Marple stellte im stillen wieder einmal fest, daß ihre Freundin

zwar eine Frau von klarem Verstand und ausgezeichneten

Grundsätzen war, aber keinen Funken Phantasie besaß.

«Man möchte doch gern wissen», fuhr sie fort, «was nun

eigentlich wirklich geschehen ist.»

«Die Frau wurde ermordet.»

«Ja, aber wer hat sie ermordet und warum, und was ist

aus der Leiche geworden. Daß die Polizei diesen Punkt noch

nicht zu klären vermochte, läßt doch darauf schließen, daß

der Mörder schlau ist – sehr schlau. Ich muß gestehen, ich

kann mir einfach nicht vorstellen, was er mit der Leiche

gemacht hat. Man kann, wie ich schon sagte, die Tote in eine

Ecke setzen, ihr Gesicht verbergen, so daß es den Anschein

erweckt, als schliefe sie, und dann selber so schnell wie

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