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S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

1983 haben Jim Hartle und ich vorgeschlagen, die Aufsummierung von Möglichkeiten für das Universum nicht mit Geschichten in der realen Zeit, sondern mit Geschichten in der imaginären Zeit vorzunehmen – mit Geschichten, die in sich geschlossen sind wie die Oberfläche der Erde. Da diese Geschichten ohne Singularitäten, ohne Anfang und Ende sind, wird alles, was in ihnen vorgeht, vollständig von den Gesetzen der Physik bestimmt. Das heißt, was in der imaginären Zeit geschieht, läßt sich berechnen. Und wenn man die Geschichte des Universums

in der imaginären Zeit kennt, kann man berechnen, wie es sich in der realen Zeit verhält. Folglich kann man hoffen, auf diese Weise eine vollständige, vereinheitlichte Theorie zu erhalten, die alles im Universum vorhersagen kann. Einstein hat seine letzten Lebensjahre damit verbracht, nach einer solchen Theorie zu suchen. Er hat sie nicht entdeckt, weil er der Quantenmechanik mißtraute. Er mochte sich nicht damit abfinden, daß das Universum möglicherweise viele alternative Geschichten hat, wie es in der Aufsummierung von Möglichkeiten der Fall ist. Noch sind wir nicht in der Lage, die Aufsummierung von Möglichkeiten in geeigneter Weise für das Universum vorzunehmen, aber wir können ziemlich sicher sein, daß die imaginäre Zeit und die Vorstellung einer in sich geschlossenen Raumzeit dazugehören werden. Ich glaube, diese Konzepte werden der nächsten Generation so natürlich erscheinen wie uns die Vorstellung, daß die Erde rund ist. In Science-fiction-Romanen ist die imaginäre Zeit schon heute ein Allgemeinplatz. Aber sie ist mehr als Science-fiction oder ein mathematischer Trick. Sie verleiht dem Universum, in dem wir leben, seine Gestalt.

Der Ursprung

des Universums *

Die Frage nach dem Ursprung des Universums erinnert ein bißchen an das alte Problem: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Mit anderen Worten, welche Instanz hat das Universum erschaffen, und wer oder was hat diese Instanz erschaffen? Vielleicht gibt es das Universum – oder die Instanz, die es geschaffen hat – schon ewig, und es mußte gar nicht erschaffen werden? Bis in jüngste Zeit sind Wissenschaftler solchen Fragen ausgewichen, weil sie meinten, sie gehörten eher in den Bereich der Metaphysik oder Religion als in den der Wissenschaft. Doch in den letzten Jahren hat sich herausgestellt, daß die Naturgesetze möglicherweise auch für den Anfang des Universums gültig sind. In diesem Falle wäre das Universum in sich geschlossen und vollständig von den Naturgesetzen bestimmt.

Die Auseinandersetzung, ob und wie das Universum angefan-gen hat, zieht sich durch die ganze bekannte Geschichte. Prinzi-

*

Vortrag, gehalten im Juni 1987 bei der Tagung «Dreihundert Jahre Gravitation» in Cambridge anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Veröffentlichung von Newtons .

piell gab es zwei Auffassungen. Viele frühe Überlieferungen, so auch die jüdische, christliche und islamische Religion, lehrten, daß das Universum in relativ junger Vergangenheit erschaffen wurde. (So errechnete Bischof Usher im siebzehnten Jahrhundert als Schöpfungszeitpunkt das Jahr 4004 v. Chr., indem er die Lebensalter der Menschen im Alten Testament addierte.) Für einen Ursprung, der noch nicht lange zurückliegt, hat man die Überlegung ins Feld geführt, daß die Menschheit offensichtlich eine kulturelle und technische Entwicklung durchläuft. Wir wissen noch, wer diese Tat vollbracht und jene Technik entwickelt hat. Deshalb, so die Argumentation, kann es uns noch nicht allzu lange geben, sonst hätten wir bereits größere Fortschritte erzielt.

Und so ist der biblische Schöpfungszeitpunkt nicht weit vom Ende der letzten Eiszeit entfernt, dem Moment, da der moderne Mensch offenbar zum erstenmal in Erscheinung getreten ist.

Anderen, wie zum Beispiel dem griechischen Philosophen Aristoteles, mißfiel die Idee, das Universum habe einen Anfang gehabt. Das setze göttliche Intervention voraus, meinten sie und hielten sich lieber an die Vorstellung, das Universum existiere seit ewigen Zeiten und werde endlos fortdauern. Etwas von ewiger Dauer war in ihren Augen vollkommener als ein Gebilde, das hatte erschaffen werden müssen. Sie hatten auch eine Antwort auf das erwähnte Argument, welches sich auf den menschlichen Fortschritt beruft: Es habe immer wieder Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen gegeben, die die Menschen gezwungen hätten, stets von vorn anzufangen.

Nach beiden Auffassungen wäre das Universum mehr oder weniger unveränderlich in der Zeit. Entweder wäre es in seiner gegenwärtigen Form erschaffen worden, oder es überdauerte seit ewigen Zeiten in seiner heutigen Gestalt. Das ist eine nahelie-gende Annahme, da das menschliche Leben – ja die gesamte überlieferte Entwicklungsgeschichte – erst seit so kurzer Zeit existiert, daß sich das Universum in diesen Perioden kaum ver-

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