eine Ausländerin, vielleicht eine Französin. Cedric, hältst du
es für möglich, daß es – Martine ist?»
Cedric starrte sie einige Sekunden lang an, als verstünde
er sie nicht.«Martine? Aber wer – ach so, du meinst
Martine?»
«Ja, glaubst du -»
«Warum um alles in der Welt sollte es Martine sein?»
«Das Telegramm, das sie schickte, war doch recht merkwürdig,
wenn man darüber nachdenkt. Es muß ungefähr zur
selben Zeit gewesen sein… Glaubst du, sie ist bierhergekommen
und -»
«Unsinn! Warum sollte Martine hierhergekommen sein?
Und was soll sie im gesucht haben? Ich
finde diese Idee absurd.»
«Meinst du nicht, ich sollte es Inspektor Bacon oder dem
andern sagen?»
«Was sagen?»
«Über Martine. Wegen des Briefs.»
«Bring bloß die Dinge nicht noch mehr durcheinander,
Schwesterherz, und erzähl der Polizei nicht allerlei belangloses
Zeug, das mit der Sache gar nichts zu tun hat. Ich habe
übrigens nie recht an Martines Brief geglaubt.»
«Aber ich.»
«Du warst von jeher geneigt, immer unmögliche Dinge
zu glauben. Mein Rat ist: halt deinen Mund. Es ist Sache der
Polizei, die Leiche zu identifizieren. Ich wette, Harold würde
dasselbe sagen, wenn du ihn fragtest.»
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«Natürlich würde Harold dasselbe sagen. Alfred auch.
Aber ich bin verwirrt, Cedric, ich mache mir wirklich
Gedanken, und ich weiß nicht, was ich tun soll.»
«Nichts», erwiderte Cedric sofort.
Emma Crackenthorpe seufzte. Sie kehrte langsam zum
Haus zurück. Man sah ihr an, daß etwas sie quälte. Als sie
das Haus beinahe erreicht hatte, kam Dr. Quimper heraus
und öffnete die Tür seines alten Austin. Als er sie sah,
machte er die Tür wieder zu und ging ihr entgegen.
«Das Befinden Ihres Vaters, Miss Emma, ist erstaunlich
gut», sagte er. «Mord scheint ihm zu bekommen. Er nimmt
jetzt doppelten Anteil am Leben. Ich muß diese Medizin
auch anderen unter meinen Patienten empfehlen.»
Emma lächelte mechanisch.
Dr. Quimper merkte sofort, daß etwas los war mit ihr.
«Quält Sie etwas?» fragte er.
Emma blickte zu ihm auf. Sie hatte sich daran gewöhnt,
seine Freundlichkeit und Sympathie als trostreich zu empfinden.
Er war ein Freund geworden, auf den man sich stützen
konnte, nicht nur ein ärztlicher Ratgeber. Seine Barschheit
täuschte sie nicht. Sie wußte, daß sich hinter der rauhen
Außenseite ein gutes Herz verbarg.
«ja, es quält mich etwas», räumte sie ein.
«Wollen Sie es mir nicht erzählen? Natürlich nur, wenn
Sie wollen.»
«Ich möchte es Ihnen gern erzählen. Zum Teil wissen Sie
es schon. Die Frage ist nur, was ich tun soll.»
«Mir scheint, Ihr Urteil war meistens recht sicher. Wo
liegt die Schwierigkeit?»
«Sie erinnern sich – oder vielleicht erinnern Sie sich nicht
-, daß ich Ihnen einmal etwas über meinen Bruder erzählt
habe – den Bruder, der im Krieg fiel.»
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«Sie meinen, daß er sich verheiratet hatte – oder verheiraten
wollte. Handelte es sich nicht um ein französisches Mädchen?
»
«ja. Fast unmittelbar, nachdem ich seinen Brief erhalten
hatte, fiel er. Wir haben nie mehr etwas von dem Mädchen
oder über sie gehört. Alles, was wir von ihr wußten, war ihr
Vorname. Wir erwarteten immer, daß sie schreiben oder herkommen
würde. Aber sie tat es nicht. Kein Lebenszeichen
von ihr – bis vor etwa einem Monat, unmittelbar vor Weihnachten.
»
«Ich erinnere mich. Sie bekamen damals einen Brief,
nicht wahr?»
«Ja. Darin hieß es, sie sei in England und würde uns gern
besuchen. Wir richteten uns darauf ein, aber in letzter
Minute schickte sie ein Telegramm: Sie müsse
unerwarteterweise nach Frankreich zurück.»
«Und?»
«Die Polizei glaubt, die ermordete Frau sei eine
Französin.»
«So? Glaubt sie das? Ich hatte eher den Eindruck, sie
müsse eine Engländerin sein, aber man kann ja schlecht
urteilen. Was Sie beunruhigt, ist also die Möglichkeit, daß
die tote Frau die Verlobte Ihres Bruders sein könnte?»
«Ja.»
«Ich halte das zwar für äußerst unwahrscheinlich», erwiderte
Dr. Quimper, «aber trotzdem kann ich Ihre Skrupel gut
verstehen.»
«Ich frage mich, ob ich nicht der Polizei alles erzählen
sollte. Cedric und die andern halten es für ganz überflüssig.
Wie denken Sie darüber?»
«Hm.»
Dr. Quimper schürzte die Lippen. Er schwieg eine Weile
und dachte angestrengt nach. Schließlich sagte er zögernd:
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«Es ist natürlich viel einfacher, wenn Sie nichts sagen.
Ich kann Ihre Brüder verstehen. Dennoch -»
Quimper blickte sie an – fast liebevoll.