sie. Es wird das beste sein, sie erzählen mir alles, vielleicht
können wir Ihnen dann Ihre Unruhe nehmen.»
Emma zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie:
«Sie haben drei von meinen Brüdern kennengelernt. Ich
hatte noch einen vierten Bruder, Edmund, der im Krieg
gefallen ist. Kurz bevor er fiel, schrieb er mir aus
Frankreich.»
Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen verblaßten
und zerknitterten Brief heraus. Sie las daraus vor:
Ich hoffe, Du wirst keinen Schreck bekommen, Emmie,
aber ich muß Dir sagen, daß ich heiraten werde. Eine
Französin. Es kam alles ganz plötzlich, aber ich weiß, Du
wirst Martine gern haben und Dich ihrer annehmen,
wenn mir etwas zustoßen sollte. In meinem nächsten Brief
werde ich Dir Genaueres berichten. Dann werde ich
verheiratet sein. Bring es dem alten Mann vorsichtig bei,
ja? Er wird sich wahrscheinlich fürchterlich aufregen.
Inspektor Craddock streckte seine Hand aus. Emma legte
zögernd den Brief hinein. Sie fuhr schnell fort:
«Zwei Tage nach Eintreffen dieses Briefes erhielten wir
ein Telegramm, in dem es hieß, Edmund sei vermißt, wahrscheinlich
gefallen. Später wurde endgültig bestätigt, daß er
gefallen war – unmittelbar vor Dünkirchen, zu einer Zeit
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also, da große Verwirrung herrschte. Es findet sich in
keinem militärischen Aktenstück ein Hinweis, aus dem sich
ersehen ließe, daß er geheiratet hatte. Ich habe nie etwas von
dem Mädchen gehört. Nach Kriegsende versuchte ich
Nachforschungen anzustellen, aber da ich nur ihren
Vornamen kannte, kam man mit den Ermittlungen nicht sehr
weit. Schließlich nahm ich an, die Heirat habe niemals
stattgefunden oder das Mädchen sei auch gestorben. »
Inspektor Craddock nickte.
Emma fuhr fort:
«Stellen Sie sich daher meine Überraschung vor, als ich
vor einem Monat einen Brief erhielt, der von einer Martine
Crackenthorpe unterzeichnet war.»
«Haben Sie diesen Brief?»
Emma nahm den Brief aus ihrer Handtasche und reichte
ihn dem Inspektor, der ihn mit Interesse las. Die Handschrift
war offenbar die einer gebildeten Frau.
Mademoiselle!
Ich hoffe, Sie werden nicht erschrecken, wenn Sie
diesen Brief lesen. Ich weiß nicht einmal, ob Ihr Bruder
Edmund Ihnen mitgeteilt hat, daß wir geheiratet haben.
Er sagte, er wolle es tun. Nur wenige Tage nach unserer
Heirat fiel er, und zur selben Zeit besetzten die
Deutschen unser Dorf. Nach Kriegsende beschloß ich,
nicht an Sie zu schreiben oder an Sie heranzutreten,
obwohl Edmund mir gesagt hatte, ich solle es tun. Aber
ich hatte inzwischen ein neues Leben begonnen, und ich
bedurfte Ihrer Hilfe nicht. Jetzt aber haben die Dinge
sich geändert. Um meines Sohnes willen schreibe ich
diesen Brief. Er ist ja auch der Sohn Ihres Bruders, und
ich kann ihm nicht länger das Leben bieten, auf das er
Anspruch hat. Anfang nächster Woche komme ich nach
England. Wollen Sie mich wissen lassen, ob ich Sie
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besuchen darf? Meine Adresse für Briefe lautet: 126
Elvers Crescent, N.10.
Ich verbleibe mit der Versicherung meiner größten
Hochachtung
Martine Crackenthorpe
Craddock schwieg einige Augenblicke. Er las den Brief
sorgfältig noch einmal und faltete ihn wieder zusammen,
bevor er ihn zurückreichte.
«Was taten Sie, nachdem Sie diesen Brief erhalten hatten,
Miss Crackenthorpe?>
«Mein Schwager Bryan Eastley war zu der Zeit zufällig
bei uns. Ich sprach mit ihm über den Brief. Dann rief ich
meinen Bruder Harold in London an und fragte ihn nach
seiner Meinung. Harold war sehr skeptisch und riet zu
äußerster Vorsicht. Er meinte, wir müßten sehr genau
prüfen, ob die Briefschreiberin wirklich mit unserem Bruder
verheiratet gewesen sei.»
Emma machte eine kurze Pause und fuhr dann fort:
«Das war natürlich durchaus vernünftig, und ich stimmte
ihm bei. Wenn dieses Mädchen – oder vielmehr diese Frau
-wirklich jene Martine war, von der Edmund mir
geschrieben hatte, dann mußten wir sie freundlich
aufnehmen. Ich schrieb ihr daher an die angegebene Adresse
und lud sie ein, nach Rutherford Hall zu kommen. Ein paar
Tage später erhielt ich ein Telegramm aus London. Dann kam kein Brief mehr, und
wir hörten auch nichts weiter von ihr.»
«Und wann geschah das alles?»
«Es war kurz vor Weihnachten. Ich hatte ihr eigentlich
vorschlagen wollen, das Fest bei uns zu verbringen. Da mein
Vater aber nichts davon wissen wollte, sollte sie am
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Wochenende nach Weihnachten kommen, solange die
Familie noch beisammen war. »
«Und Sie sind sich wirklich sicher, daß die Frau, deren