möglich den Zug verlassen. Ich sehe keine andere Möglichkeit
– und dennoch muß es eine gegeben haben . . .»
21
Miss Marple versank in Gedanken.
«Wie steht es mit den Zügen nach London?» erkundigte
sich Mrs. McGillicuddy. «Würde es dir passen, wenn ich
morgen nachmittag abreisen würde? Ich wollte zu Margaret,
und die erwartet mich nicht vor der Teestunde.»
«Vielleicht könntest du den Zug um 12 Uhr 5o nehmen?
Wir könnten früh zu Mittag essen.»
Mrs. McGillicuddy blickte ihre Freundin fragend an.
«Natürlich, Jane – aber was hast du im Sinn?»
«Ich schlage vor, Elsbeth, daß ich dich nach London begleite
und daß wir in dem Zug, den du benützt hast, zusammen
nach Brackhampton zurückreisen. Du würdest dann von
Brackhampton aus nach London fahren und etwa um sieben
bei Margaret sein, und ich würde hier ankommen wie du
vorgestern. Natürlich würde ich die Kosten tragen», betonte
Miss Marple nachdrücklich.
«Was, um alles in der Welt, erwartest du denn, Jane?»
fragte Mrs. McGillicuddy verwundert. «Daß wieder ein
Mord geschieht?»
«Gewiß nicht!» erwiderte Miss Marple entsetzt. «Aber
ich gestehe, ich würde gern selber – unter deiner Führung –
den Schauplatz des Verbrechens, wenn man es so nennen
kann, in Augenschein nehmen.»
Also saßen die beiden Freundinnen am nächsten Tag in
zwei gegenüberliegenden Ecken eines Abteils erster Klasse
in dem Zug, der den Londoner Bahnhof Paddington um 16
Uhr 5o verließ. Der Bahnhof war noch bele bter, als er es am
vergangenen Freitag gewesen war, denn es waren ja nur
noch zwei Tage bis Weihnachten. Aber der Zug 16 Uhr 50
war verhältnismäßig leer, jedenfalls soweit es die letzten
Wagen betraf.
Diesmal fuhr kein Zug parallel mit dem ihren. Von Zeit
zu Zeit flitzten Züge nach London an ihnen vorüber.
22
Zweimal waren es auch Züge, die mit großer
Geschwindigkeit in ihrer Richtung fuhren.
Mrs. McGillicuddy blickte des öfteren auf ihre Uhr.
«Es ist schwer zu sagen, wann wir eine Station passiert
haben, die ich kenne . . . » – Sie kamen durch eine ganze
Reihe von Bahnhöfen.
«In fünf Minuten werden wir in Brackhampton sein»,
sagte Miss Marple.
Ein Schaffner erschien im Gang. Miss Marple blickte ihre
Freundin fragend an. Mrs. McGillicuddy schüttelte den
Kopf. Es war nicht derselbe Schaffner. Er kontrollierte die
Fahrkarten und ging dann weiter, leicht strauchelnd, da der
Zug in eine langgezogene Kurve einbog. Gleich darauf verlangsamte
er seine Fahrt.
«Ich glaube, wir kommen jetzt nach Brackhampton»,
sagte Mrs. McGillicuddy.
«Ja, wir sind in den Außenbezirken, scheint mir», bestätigte
Miss Marple.
Draußen huschten Lichter vorüber, dann Gebäude, und
gelegentlich konnte man einen flüchtigen Blick auf Straßen
mit Trambahnen werfen. Die Fahrt verlangsamte sich immer
mehr. Jetzt fuhren sie über Weichen hinweg.
«In einer Minute werden wir dort sein», erklärte Mrs.
McGillicuddy. «Ich kann wirklich nicht sehen, daß diese
Reise irgend etwas gebracht hätte. Oder, Jane?>
«Ich fürchte, nein», erwiderte Miss Marple.
«Eine bedauerliche Geldverschwendung», sagte Mrs.
McGillicuddy, aber nicht ganz so mißbilligend, als wenn sie
die Fahrt selber bezahlt hätte.
«Unser Zug hat einige Minuten Verspätung», bemerkte
Miss Marple. «Wie war es mit deinem am Freitag?»
«Es ist möglich, daß er ebenfalls Verspätung hatte. Ich
habe nicht darauf geachtet.»
23
Der Zug rollte langsam in den Bahnhof Brackhampton
ein. Der Lautsprecher meldete sich mit heiserer Stimme,
Türen wurden geöffnet und geschlossen, Leute stiegen ein
und aus, auf dem Bahnsteig wogte eine Menschenmenge hin
und her. Es herrschte reges Leben und Treiben.
Es ist leicht für einen Mörder, dachte Miss Marple, in der
Menschenmenge unterzutauchen und den Bahnhof zu verlassen,
oder in einen anderen Wagen umzusteigen. Es ist
leicht, ein einzelner Reisender unter vielen zu sein. Weniger
leicht aber ist es, eine Leiche einfach verschwinden zu
lassen. Sie maß also irgendwo sein.
Mrs. McGillicuddy war ausgestiegen. Sie sprach jetzt
vom Bahnsteig aus durch das offene Fenster.
«Wir wollen uns über diese Geschichte keine weiteren
Gedanken mehr machen. Wir haben getan, was wir konnten.
»
Miss Marple ruckte. Dann verabschiedeten sich die
beiden Freundinnen. Mrs. McGillicuddy wandte sich zum
Gehen, ein Pfiff ertönte, der Zug setzte sich in Bewegung.
Miss Marple blickte der untersetzten Figur ihrer Freundin
nach. Elsbeth konnte guten Gewissens nach Ceylon fahren.
Während der Zug seine Fahrt beschleunigte, lehnte Miss
Marple sich nicht in die Polster zurück. Sie saß aufrecht da