Padington by Agatha Christie

eingetroffen war und die die einzigen zu sein schienen, die

er besaß: eine alte graue Flanellhose und eine geflickte und

ziemlich abgetragene, ausgebeulte Jacke. Er sah so aus, wie

ein braver Bürger sich einen Bohemien vorstellt.

Sein Bruder Harold war im Gegensatz zu ihm der

Prototyp eines City-Gentlemans und Direktors einer

bedeutenden Handelsgesellschaft. Er war groß und fiel durch

eine sehr korrekte Haltung auf. Sein dunkles Haar begann

sich an den Schläfen etwas zu lichten. Gekleidet war er in

einen tadellos sitzenden dunklen Anzug, zu dem er einen

perlgrauen Schlips trug – ganz der kluge, erfolgreiche

Geschäftsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Er bemerkte

jetzt steif:

«Wirklich, Cedric, das scheint mir eine höchst

unpassende Bemerkung zu sein.»

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«Ich wüßte nicht, warum. Die Tote wurde doch in

unserem Schuppen gefunden. Wie ist sie dahin gekommen?»

Mr. Wienborne hüstelte.

«Möglicherweise zu einem Stelldichein», meinte er.

«Wie ich höre, ist es allgemein bekannt, daß der Schlüssel

neben der Tür an einem Nagel hing.»

In seinem Ton drückte sich deutlich die Mißbilligung

eines solchen Leichtsinns aus. Das war so klar, daß Emma

entschuldigend sagte:

«Da sich im nichts befand, was zum

Diebstahl hätte verführen können, ließen wir den Schlüssel

am Nagel hängen. Wir fanden das bequemer und sahen nicht

ein, warum wir an dieser Gewohnheit etwas hätten ändern

sollen.»

Sie hatte mechanisch gesprochen, als seien ihre

Gedanken ganz woanders.

Cedric fragte verwundert:

«Was ist los, Schwesterherz? Quält dich etwas?»

Harold machte ein verzweifeltes Gesicht: «Wie kannst du

nur fragen, Cedric!»

«Gewiß. Eine uns fremde junge Frau wurde im getötet, und Emma bekam begreiflicherweise

einen Schock, als sie davon hörte. Aber da sie immer ein

vernünftiges Mädchen gewesen ist, begreife ich nicht recht,

warum sie sich imnmer noch so darüber aufregt. Man gewöhnt

sich schließlich an alles.»

«Bei manchen Menschen dauert es eben etwas länger, bis

sie sich an einen Mord gewöhnen, als es bei dir der Fall zu

sein scheint», erwiderte Harold säuerlich. «Ich vermute, ein

Mord ist an der Tagesordnung auf Mallorca, und -»

«Ibiza, nicht Mallorca.»

«Das ist dasselbe.»

«Durchaus nicht. Es ist eine ganz andere Insel.»

Harold fuhr unbeirrt fort:

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«Worauf es ankommt, ist, daß es für dich, der du unter

heißblütigen Südländern lebst, etwas Alltägliches sein mag,

während wir hier in England diese Dinge ernst nehmen. Im

übrigen, was ich noch sagen wollte – daß du bei einer

öffentlichen Leichenschau in einem solchen Aufzug

erscheinst -»

«Was ist los mit meinen Sachen? Sie sind bequem.»

«Sie sind unpassend.»

«Nun, jedenfalls sind es die einzigen, die ich mitgebracht

habe. Ich bin Maler, und Maler schätzen bequeme Kleidung.

»

«Du versuchst also immer noch zu malen?»

«Hör mal, Harold. Wenn du sagst, ich versuche zu

malen…

Mr. Wienborne räusperte sich energisch.

«Dies ist eine unfruchtbare Diskussion», unterbrach er

die Brüder vorwurfsvoll. «Kann ich vielleicht noch irgend

etwas für Sie tun, bevor ich nach London zurückkehre?»

Emma Crackenthorpe erwiderte schnell:

«Es war außerordentlich freundlich von Ihnen, daß Sie

hergekommen sind.»

«Nicht der Rede wert. Ich zweifle nicht daran, daß diese

betrübliche Sache bald aufgeklärt sein wird. Es scheint mir

ziemlich klar, wie alles vor sich gegangen ist. Der Schlüssel

vom hing draußen neben der Tür. Das

dürften viele Menschen gewußt haben. Höchstwahrscheinlich

wurde dieser Raum in den Wintermonaten gelegentlich

von Liebespaaren als Treffpunkt gewählt. Da ist es dann zu

einem Streit gekommen, und irgendein junger Mann hat die

Beherrschung verloren. Er war entsetzt, als er sah, was er

getan hatte, und als dann sein Blick auf den Sarkophag fiel,

ist ihm offenbar der Gedanke gekommen, er eigne sich

ausgezeichnet zum Verbergen der Leiche.»

Lucy dachte im stillen: Ja, das klingt sehr einleuchtend.

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Cedric folgerte: «Wenn es ein Liebespaar aus der

Nachbarschaft war, dann erscheint es doch sonderbar, daß

niemand von den Leuten, die bei der Leichenschau zugegen

waren, das Mädchen hat identifizieren können.»

«Wir stehen erst am Anfang der Untersuchung. Es wird

sicher nicht mehr lange dauern, bis die Tote identif iziert

werden wird. Natürlich ist es möglich, daß der Täter in der

Gegend hier lebte, das Mädchen aber von woanders

herkam.»

«Wenn ich ein Mädchen wäre, das mit einem jungen

Mann ein Stelldichein vereinbart, dann würde ich mich nicht

bereit finden, in einen so bitterlich kalten Schuppen zu

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