S t e p h e n W. H a w k i n g. E i n s t e i n s T r a u m

Der Titel dieses Essays ist eine Frage: Ist alles vorherbestimmt? Die Antwort lautet ja. Doch sie könnte genausogut nein lauten, weil wir niemals wissen können, was vorherbestimmt ist.

Die Zukunft

des Universums

Gegenstand dieses Aufsatzes ist die Zukunft des Universums oder vielmehr das, was nach Meinung der Wissenschaft diese Zukunft sein wird. Natürlich ist es sehr schwer, die Zukunft vorherzusagen. Ich wollte einmal ein Buch schreiben, das heißen sollte: «Das Morgen von gestern: Eine Geschichte der Zukunft». Es wäre eine Geschichte von Zu-kunftsprognosen geworden, von denen fast alle weit danebenge-legen haben. Und doch – trotz dieser Fehlschläge sind Wissenschaftler noch immer der Meinung, sie könnten die Zukunft vorhersagen.

In früheren Zeiten waren solche Prophezeiungen Aufgabe von Orakeln und Seherinnen. Oft waren das Frauen, die durch ein Rauschmittel oder das Einatmen von vulkanischen Dämpfen in Trance versetzt waren. Ihre Visionen wurden dann von den an-wesenden Priestern gedeutet. Die eigentliche Kunst lag in der Interpretation. Das berühmte Orakel von Delphi im antiken Griechenland war bekannt dafür, daß es auf Nummer Sicher ging und sich mehrdeutig äußerte. Als die Spartaner fragten,

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Darwin-Lecture, Universität Cambridge, Januar 1991.

was geschehen werde, wenn die Perser Griechenland angriffen, erwiderte das Orakel: Entweder wird Sparta zerstört oder sein König getötet werden. Ich nehme an, die Priester hatten sich überlegt, daß die Spartaner, sollte keine dieser Möglichkeiten eintreten, Apollo so dankbar wären, daß sie den Irrtum seines Orakels übersähen. Tatsächlich fiel der König bei der Verteidi-gung des Thermopylen-Passes, einer legendären Heldentat, die Sparta rettete und zur späteren Niederlage der Perser führte.

Ein andermal fragte der lydische König Krösus, der reichste Mann der Welt, was geschähe, wenn er in Persien einfiele. Die Antwort lautete: Ein Königreich wird fallen. Krösus glaubte, damit sei das Perserreich gemeint, aber statt dessen ging sein eigenes Königreich zugrunde, und er selbst landete auf dem Schei-terhaufen.

Untergangspropheten in jüngerer Zeit haben sich dagegen viel stärker exponiert und das Ende der Welt auf Jahr und Tag vor-ausgesagt. Dies hat gelegentlich zu Einbrüchen der Aktienmärkte geführt, obwohl mir nicht in den Kopf will, warum ein bevorstehender Weltuntergang jemanden dazu veranlassen sollte, seine Aktien in Geld umzuwandeln. Mitnehmen kann man doch vermutlich beides nicht.

Bislang sind alle Termine, für die der Weltuntergang angekündigt wurde, ohne besondere Zwischenfälle verstrichen. Allerdings hatten die Propheten häufig eine Erklärung für ihre scheinbaren Irrtümer. Beispielsweise hat William Miller, der Gründer der Seventh Day Adventists, vorhergesagt, die Wiederkunft Christi werde zwischen dem 21. März 1843 und dem 21. März 1844 stattfinden. Als nichts geschah, verschob er das Ereignis auf den 22. Oktober 1844. Auch dieser Tag verging, und nichts Weltbewegendes passierte; da lieferte der Sekten-gründer eine neue Deutung: Das Jahr 1844 sei der Beginn der Wiederkunft. Zuerst aber müßten die Namen im Buch des Lebens gezählt werden. Erst dann komme der Tag des Jüngsten

Gerichts für diejenigen, die nicht in dem Buch stünden. Zum Glück scheint das Zählen viel Zeit in Anspruch zu nehmen.

Natürlich sind wissenschaftliche Vorhersagen unter Umständen nicht zuverlässiger als die von Orakeln oder Propheten. Man denke nur an die Wetterprognosen. Aber es gibt bestimmte Situationen, in denen wir glauben, zuverlässige Vorhersagen machen zu können, und die Zukunft des Universums, in großem Maßstab betrachtet, gehört dazu.

Im Laufe der letzten dreihundert Jahre haben wir die Naturgesetze entdeckt, die das Verhalten der Materie in allen gewöhnlichen Situationen bestimmen. Nach welchen Gesetzen sich die Materie unter sehr extremen Bedingungen richtet, wissen wir noch nicht genau. Diese Gesetze sind von Bedeutung, wenn wir den Anfang des Universums verstehen wollen, doch die künftige Entwicklung des Universums ist nicht von ihnen betroffen, es sei denn, es stürzt eines Tages wieder zu einem Zustand von hoher Dichte zusammen. Wie wenig solche für hochenergetische Zu-stände geltenden Gesetze mit dem gegenwärtigen Universum zu tun haben, zeigt der Umstand, daß wir viel Geld ausgeben, um riesige Teilchenbeschleuniger zu bauen, mit denen wir diese Gesetze überprüfen können.

Auch wenn es uns vielleicht gelingt, die Gesetze zu erkennen, die das Universum bestimmen, werden sie uns möglicherweise nicht in die Lage versetzen, Vorhersagen zu machen, die weit in die Zukunft reichen. Es könnte nämlich sein, daß die Lösungen der physikalischen Gleichungen eine Eigenschaft offenbaren, die man als Chaos bezeichnet. Das heißt, die Gleichungen könnten instabil sein: Wenn man den Zustand eines Systems um einen winzigen Betrag verändert, kann das spätere Verhalten des Systems vollkommen anders aussehen. Verändern Sie beispielsweise die Art, wie Sie ein Rouletterad in Drehung versetzen, auch nur geringfügig, sorgen Sie dafür, daß eine ganz andere Zahl herauskommt. Es ist praktisch unmöglich, diese Zahl vor-

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